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Wild Wild East. Walter Röhrl im wilden Osten.

Schon mal aufgefallen? Der coolste Westernheld aller Zeiten heißt ausgerechnet Eastwood. In den frühen Siebzigern macht sich neben Dirty Harry noch ein anderer „Fremder ohne Namen“ auf den Weg zum Superstar, er fährt schneller als sein Schatten, und er reitet nach Osten.

Der große alte Mann steht auf der Weide und zieht die Augen zu Schlitzen zusammen. Er schaut den wilden Pferden zu, von denen über 500 in dieses kleine rotweiße Autochen gesperrt sind. Äußerlich steht er reglos da, innerlich schüttelt er den Kopf. „Früher, wenn ein Auto quer gekommen ist, haben die Leute gesagt: Boah, der ist aber schnell, heute sieht das so unspektakulär aus, aber die Autos sind so schnell. Nur können das die normalen Leute gar nicht beurteilen“, sagt Walter Röhrl über den Auftritt des Kalle Rovanperä.

Röhrl ist mit dem alten Spezi Konrad Schmidt zur neuen Rallye Zentraleuropa gefahren. Die neuen Strecken in Bayern, Böhmen, Oberösterreich – alles seine Jagdgründe. Und der Walter wäre ja nicht der Walter, würden nicht sofort die Anekdoten sprudeln.

1972. Der Spaghetti-Western ist ein totes Pferd, aber der eine lange Dürre hat als „Dirty Harry“ seine Rolle als Revolvermann einfach in ein Polizeirevier in San Francisco verlegt und ist einer der bestbezahlten Hollywood-Stars, der andere hat das erste Jahr als Sport-Profi hinter sich und wird sich bei der mit Stars gespickten Olympia-Rallye einen Namen machen. Doch bevor dieser Walter Röhrl der Drift-Elite zum ersten Mal auf der Nase rumtanzt, muss er in den Osten.

Start hinter dem Eisernen Vorhang

Bis zu seinem ersten Auslandseinsatz, der ihn nach Lyon und Charbonnierès in Frankreich führt, hat dieser unscheinbare Typ mit dem rotblonden Scheitel gerade mal fünf Einsätze hinter sich, alle rund um die heimischen Kirchtürme in Bayern. Jetzt, nach nur einer vollen Saison im Capri des Kleint-Teams soll es aufs internationale Parkett gehen, und das liegt nicht nur jenseits der Grenze, sondern auf der dunklen Seite, hinter dem eisernen Vorhang. Das Greenhorn aus dem bayerischen Wald macht sich auf den Weg zur Polen-Rallye.

„Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie schlimm das war, an der Grenze“, erinnert sich Röhrl und er meint nicht die polnische. Röhrl muss nach Berlin und ein Visum besorgen, er ist schwer eingeschüchtert und innerlich rumort es im Krawallwinkel seiner Seele angesichts der finsteren Atmosphäre und der wichtigtuerischen DDR-Grenzer. 

Der Respekt vor osteuropäischen Amtspersonen sinkt allerdings nach kürzester Zeit auf Straßengraben-Niveau, das Erste, was dem Walter zum Thema Ostblock einfällt, ist die allgegenwärtige Abzocke. Aber beim Gerechtigkeits-Fanatiker Röhrl sind sie an den Falschen geraten. Röhrl zahlt nicht, Röhrl droht. Wer weiß, was wir mit Mitte Siebzig für einen Quatsch erzählen, also sehen wir dem Walter in den Anekdoten leichte Detailänderungen nach, wenn er in seiner Autobiographie schreibt, er habe dem uniformierten Ganoven im Gegenzug angeboten: „Du kannst zehn Watschen haben.“ Heute meint er sich an ein anderes Gegengeschäft zu erinnern: „Du kannst mich zehn Mal am Arsch lecken.“

Walter Roehrl1973 1

Und es ist auch nicht mehr ganz sicher, ob der Schupo nun den Pass oder den internationalen Führerschein einkassiert hat, aber er weiß noch genau, dass er ihm klarmacht, dass er in einer Minute losfährt, mit oder ohne Lappen. Der Vertreter des Gesetzes hält seinen Arm für den längeren, bis der Röhrl kurzerhand mit rauchenden Socken abreist. Abend im Hotel geben sie ihm die Papiere zurück – 150 Kilometer vom Tatort entfernt.

So richtig übernachten tut der Röhrl nur bei den Rallyes, wenn er in Gesellschaft ist. „Ich kann im Leben nix organisieren, dafür brauche ich meinen Beifahrer, mein Team oder meine Frau.“

Wenn es damals von daheim losgeht im Trainingsauto, dann dreht der Röhrl mutterseelenallein den Zündschlüssel rum, der weltmännische Jochen Berger kommt später mit dem Flugzeug nach. Weil der schwachbrüstige Ascona so furchtbar kurz übersetzt ist, muss Röhrl langsam machen, aber auch bei Tempo 100 brüllt ihn der Querstrommotor mit 5.000 Touren an. Selbst später, als Röhrl in der WM antritt, fährt er allein auf Achse durch den Ostblock. Nicht selten hat er kein passendes Geld dabei, und verständigen kann er sich auch nicht. „Ich sprach damals ja noch fast kein Englisch.“ Kein Gedanke, in einem Hotel einzuchecken. Wenn ihn die Müdigkeit übermannt, schmiegt er sich zwei Stündchen in den Schalensitz. 

Röhrl der Stauverursacher

Die ständige Wegelagerei kontert Röhrl zuweilen mit Straßenblockade. Als am Plattensee in Ungarn mal wieder ein Polizist einen Zehner abkassieren will, parkt er den kleinen Ascona so breit, dass keiner mehr vorbeikommt. In zehn Minuten ist der Stau 500 Meter lang, und bevor es einen Aufstand gibt, lassen sie den renitenten Röhrl ziehen, denn in den Diktaturen des Proletariats haben die Oberen vor nichts mehr Angst als vor dem eigenen Volk. Nun lernen sie auch die Strenge des Oberlehrers aus der Oberpfalz kennen, der heute über seine eigene Dreistigkeit lachen muss: „Ich habe da schon ernsthafte Erziehungsmaßnahmen eingeleitet.“

Das Wildeste im Osten sind damals nicht die Banditen, sondern die Moldau-Rallye oder Danube, wie der Fluss auf Rumänisch heißt. „Es war nicht die Dakar, aber es war schon ein Abenteuer“, sagt Röhrl. Von Wien aus, geht es wie bei der alten Drei-Städte-Rallye nach Budapest, aber von da aus nach Sofia bis in die Karpaten. Der Zeitplan ist so eng, dass Verbindungsetappen nur in der Theorie existieren. Wer eine Panne hat, ist raus. 1973 kommen bei der Tortur nur sechs Autos ins Ziel. Die Schotterpisten sind so übel, dass einem eine Akropolis wie eine Autobahnfahrt vorkommt. 

Aber Röhrl hat gute Erinnerungen an die Heimat Draculas. Siebenbürgen ist eine deutsche Enklave, die meisten Menschen sprechen Deutsch und freuen sich, einen Landsmann zu sehen. „Die Leute im Osten haben den Kontakt gesucht“, sagt Röhrl, und manchmal sind die Begegnungen auch beklemmend bis herzzerreißend, wenn ihm die Leute heimlich Briefe mit Hilfegesuchen zustecken.

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Die Wald- und Wiesen-Prüfungen der Ost-Rallyes sind selten gut besucht, dafür ist ordentlich Rummel an den Zeitkontrollen und auf den Rundkursen, die hie und da gefahren werden, zuweilen sogar ohne Beifahrer. Mit Freude hat Röhrl gesehen, dass die Rallye Zentraleuropa, abgesehen von einer kurzen Mickey-Maus-WP auf einer Trabrennbahn im tschechischen Klatowy begann. Das war schon bei der Donau-Rallye, die im Original Vltava-Rallye heißt so, und jenes Klatowy ist 1973 der Ausgangspunkt einer der größten Triumphe im Kopf-Regal des Regensburgers. 

Die glamouröseste Bude im Rallye-Zirkus ist damals das Lancia-Werksteam, kein Wunder, mit Marlboro haben die Italiener auch mit als Erste einen dicken Hauptsponsor. Und sie haben Munari. Der lange Italiener ist nach seinem Monte-Sieg in der kleinen Fulvia im Vorjahr eine ganz große Nummer, und 1973 ist er auf dem Weg zum Europameistertitel, einen dickeren Pokal gibt’s für Fahrer im ersten Marken-WM-Jahr nach wie vor nicht zu gewinnen. Das venezianische Nervenbündel überschlägt sich mit seinem Auto in Klatowy und ist auch danach etwas von der Rolle. 

Noch heute musst du nur Donau 73 sagen, und Röhrl sagt wie aus der Pistole geschossen: „Zehn Minuten, Fünfundvierzig.“ So viel hat der Nobody in diesem Alte-Oma-Auto namens Opel der Diva in der Fulvia abgeknöpft. Spätestens jetzt müssen die Italiener Röhrls italienischen Leib- und Magen-Mechaniker Gino beim Irmscher nicht mehr anbohren: „Sag mal, wer ist denn dieser Typ?“ 

Fiat-Urgestein Raffaele Pinto hat schon bei Röhrls erstem Polen-Auftritt Bekanntschaft gemacht, als sich im abendlichen Nebel die Zusatz-Halos von Röhrls Capri in seinen Rückspiegel fraßen. „Du bist ein super Nebelfahrer“, lobte Pinto, nicht ahnend, dass das weit, weit im Westen, in einem portugiesischen Kaff namens Arganil ein paar Jahre später mal eine große Rolle spielen wird.

Im Osten gibt es viele Pokale

Der Osten ist ein gutes Pflaster für Röhrl. Bei der Premiere in Polen wird er hinter Pinto Zweiter, 1973 in der CSSR und in Rumänien gewinnt er ebenso wie 1974, als er ernsthaft um den EM-Titel kämpft und richtig was von der Welt sieht, vom Polarkreis in Finnland bis zum Kielder Forest in England. 14 Rallyes fährt Röhrl in dieser Saison, allein vier in Osteuropa, wo Röhrl, abgesehen von einem kleinen Abstecher nach Ypern, praktisch den ganzen Sommer verbringt.

Übermütig nach drei Siegen in Folge hat Günther Irmscher einen Experimentalmotor eingebaut. Selbst der chronisch tief stapelnde Schwabe schwärmt von 200 PS. Damit  kann der Ascona praktisch übers Wasser gehen, nur nicht, wenn es Öl mangelt. Das Ding geht alsbald fest. So wie die Handbremse ein paar Wochen später in Bulgarien, wo du dir schon beim Aussprechen des Namens was abbrechen kannst. 

Die Sache mit der Handbremse

Bei der Zlatni Piassatzi fährt Röhrl einen Platten, die Fuhre plumpst zu allem Überfluss noch vom Wagenheber, und in der Hektik hat Röhrl vergessen, den Splint, mit dem die Handbremse am Einrasten gehindert wird, wieder reinzuschieben. Bei der erstbesten Kehre fest am Hebel gezogen, parkt der Opel mit zerschossenem Heck. Es bleibt sein einziger nennenswerter Fahrfehler.

Im wilden Osten macht er im Titelkampf mit erneuten Siegen an Donau und Moldau den Deckel drauf. Besonders dankbar ist er weniger über die Punkte als über das Leben. Den EM-Pokal holt er sich bei der großen Gala am Jahresende gar nicht ab. Zu viele Leute. Da sind ihm die einsamen Karpaten lieber, aber eben auch viel ärmer. Keine drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg sind dessen Verheerungen in den kommunistischen Mangelwirtschaften jenseits des eisernen Vorhangs noch deutlich sichtbar. Der ewige Nörgler gesteht: „Da hast du schon begriffen, wie gut wir’s eigentlich haben.“

Nur mit der Korruption hat der Röhrl auch später kein Mitleid. Als er 1985 zehn Kilometer östlich des tschechischen Zlin auf einer eigens für Audi präparierten Teststrecke auf dem Gelände des Agrar-Kombinat JZD Slušovice testet, lungert wie gewohnt der örtliche Polizeichef am Service, der für den Stammgast immer eine Cognac-Flasche parat stehen hat. Röhrl impft ihm ein: „Sieh zu, dass du deine Leut unter Kontrolle hast“ und macht sich auf den Heimweg, wo prompt eine Straßensperre lauert und alle zum Aderlass über einen Parkplatz geleitet werden. Damals der Berger wedelte in Polen schon immer mit Zloti-Scheinen, später hat ihn der Geistdörfer zuweilen heimlich ausgelöst, wenn der Sturkopf neben ihm partout in den Knast wollte, um die Sache auszudiskutieren. 

Kalaschnikow vs. Aufkleber 

Dieses Mal ist Röhrl allein, er täuscht konformes Handeln vor, rollt langsam heran. Der grüne Audi ist offensichtlich ein teures West-Auto und damit ein vermeintlich leichtes Opfer. Dummerweise ist es ein Sport-Quattro und damit damals eines der stärksten Serien-Autos der Welt. Röhrl aktiviert sämtliche 306 Turbo-PS, schießt an den verdutzten Straßenräubern vorbei und ergreift mit Topspeed 260 die Flucht. Dumm nur, dass an der Grenze vor der rettenden Heimat noch ein eiserner Schlagbaum wartet. Röhrl verzögert nur so viel wie unbedingt nötig, als er auf den Posten mit der Kalaschnikow zuhält. Als dessen Finger gerade nach dem Abzug sucht, zückt der Flüchtige seine Geheimwaffe: „Aufkleber. Die waren alle verrückt nach Aufklebern. Damit konntest du alles regeln.“ 

Schwer zu glauben, dass dieser milde lächelnde älterer Herr, der dem alten und neuen Weltmeister seine Trophäe überreicht, derselbe ist wie der Haudrauf der wilden Siebziger. Rovanperä krönt sich in Passau zum zweimaligen Weltmeister, wie einst Röhrl. Der hätte vor ein paar Jahrzehnten noch gedroht, es mit den Jungen aufzunehmen, heute ist er froh, dass diese Jungs, die seine Enkel sein könnten, ihn immerhin erkennen. Röhrl weiß nicht genau, wie man Takamoto Katsuta schreibt, aber Katsuta kennt Röhrl und macht einen ordentlichen Diener. Als die Sieger das Podium betreten, gibt es Applaus in Passau. Als Röhrl auftritt, brandet Jubel auf. 

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Noch mehr als der Applaus wärmt den Regensburger beim Drei-Länder-WM-Lauf etwas anderes: „Ich hätte nicht für möglich gehalten, wie viele Leute da waren, dass sich so viele noch vom Rallyesport begeistern lassen. Ich bin ja von Haus aus immer Pessimist.“ Und so hat der Röhrl sein Weihnachtsgeschenk schon Ende Oktober bekommen. „Das hat mir echt Auftrieb gegeben.“

TEXT Markus Stier
FOTOS McKlein

LESENSWERT.
WALTER.