Der Weg, den auf dem Gelände des Forschungs- und Entwicklungszentrum von BMW im Norden von München sonst ohnehin fast niemand gehen darf, ist diesmal noch etwas beschwerlicher als sonst.
Nach wie vor ist das FIZ, längst zur Größe eines Stadtteils angewachsen, eine Großbaustelle. Und so führt einen David Ferrufino, Projektleiter des BMW i4, auf einigen Umwegen in einen der geheimsten Teile des Firmengeländes. In der Tarnwerkstatt werden die geheimen Autos von morgen und übermorgen bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Denn die Prototypen sind in freier Wildbahn seit den späten 80er Jahren so begehrt wie wilde Tiere. Von Erlkönigjägern und Prototypenfotografen werden sie bei Testfahrten auf allen Kontinenten gejagt und auch Autofans sowie Konkurrenten möchten möglichst früh die wichtigsten Informationen über das neue Fahrzeug bekommen.
Wenn ein neues Auto wie der BMW i4 auf den Markt kommt, geht es um hohe Millionen- wenn nicht Milliardenbeträge. Werden zu früh Details über das Modell öffentlich, kann sich die Konkurrenz vorbereiten und das aktuelle Modell wird viel schneller als gewünscht zum Ladenhüter. Der Aufwand, Informationen über ein neues Auto so lange als möglich geheim zu halten, ist daher enorm.
Entsprechend professionell befassen sich Marken wie BMW mit dem Thema Tarnen. Schließlich haben Prototypen für viele Autofans etwas Geheimnisvolles, Begehrenswertes, da sie Technik von morgen so verbergen wie in einem Agententhriller. Das gilt mehr denn je für ein komplett neues Fahrzeug wie den elektrischen BMW i4. Der wird aktuell zusammen mit den Verbrennermodellen von 4er Coupé / Cabrio und dem viertürigen Gran Coupé entwickelt.
Das aktuelle Mittelklassemodell der Münchner, der 3er, ist als viertürige Limousine und Kombimodell bereits seit längerem überaus erfolgreich auf der Straße unterwegs – da braucht es keine Verschleierung mehr, denn der Bayer zeigt allzu gern, was er hat. In diesem Jahr folgen zunächst das 4er Coupé und dann das Cabriolet, das wieder über ein Stoffdach verfügen wird.
Im kommenden Jahr wird die Kernfamilie von BMW mit dem viertürigen Gran Coupé sowie dem eng verwandten i4 als Elektromodell dann abgeschlossen. „Das 4er Gran Coupé der Verbrennerwelt steht neben den Coupés und Cabrios an den Spitzenplätzen der Brandshaper-Skala mit hohem Markenbeitrag“, malt Projektleiter David Ferrufino Wolken um seine Lieblingsmodelle, „der i4 als erster flacher BEV der BMW Group mit Gran-Coupé-Charakter, sportlichen Proportionen und Fahrdynamik wird genau diesen hohen Markenbeitrag in das Zeitalter der Elektromobilität transferieren.“
Bis dahin gibt es für das Entwicklungsteam des BMW i4 noch endlose Projektlisten abzuarbeiten und Ampeln von rot auf grün zu stellen. Viele der Tests können auf den bestens geschützten Testcentern in Aschheim, Arjeplog, Miramas oder gar virtuell durchgeführt werden; aber eben bei weitem nicht alles. Viele Alltagserprobungen finden in den USA, Asien oder Europa jedoch im öffentlichen Straßenverkehr statt. Ohne die rechte Tarnung wären viele Geheimnisse keine mehr und daher schaut die Testflotte des BMW i4 vorher Auto für Auto in der streng gesicherten Tarnwerkstatt im FIZ vorbei, um einen entsprechenden Tarnanzug anzulegen.
Nach endlosen Türen, namenlosen Abzweigungen und grauen Treppen steht David Ferrufino schließlich vor einem Portal, das sich nach einem kurzen Anruf öffnet. Hinter dem Rolltor ist es im Bereich W08 so sauber wie in einem Operationssaal. Gleißende LED-Lampen an der Decke illuminieren jeden der einzelnen Arbeitsplätze und die Hebebühnen. Zwei Techniker arbeiten an einem dunklen Fahrzeug, das kaum zu erkennen ist. Erst auf den zweiten Blick lassen sich die Dimensionen eines Mittelklassemodells erkennen.
Das sanft auslaufende Heck macht Geschmack auf ein Coupé – scheint der neue 4er BMW zu sein. Und da sich bei näherem Hinsehen zwei Türen auf jeder der zunehmend unkenntlich gemachten Flanken befinden, lässt sich unschwer auf das 4er Gran Coupé schließen. Tarnexperte Marinko Petrusic hat gerade noch ein Stück der dunklen Folie auf dem Dach aufgeklebt. Jetzt montiert er an der C-Säule rechts ein Verschalungselement, das die Konturen des Viertürers nochmals unkenntlicher machen soll.
Das wirre Muster auf dem Prototyp ist nicht durch Zufall entstanden. Vor 13 Jahren waren die ersten Folien aus einer Diplomarbeit entstanden und wurden seither immer wieder optimiert. Dabei hat die Tarnfolie insbesondere den Grund, dass Zuschauer im öffentlichen Straßenverkehr oder Kameraobjektive möglichst wenige Fahrzeugdetails erspähen können. Wie das Fahrzeug getarnt wird oder ob spezielle Elemente abgenommen werden können, ist dabei ebenso wenig beliebig was Muster der Folien selbst.
Wie für fast alles im Hause BMW gibt es auch hier regelmäßige Treffen im so genannten Tarnkreis. Die Runde der Experten setzt sich aus acht bis zehn Vertretern aus Arbeitsbereichen wie Entwicklung, Kommunikation und Design zusammen. Hier wird festgelegt, zu welchem Zeitpunkt der Prototypenerprobung die Erlkönige wie genau unkenntlich gemacht werden sollen. Ziel ist es dabei nicht nur, das Auto so unkenntlich wie möglich machen. Mindestens ebenso wichtig ist, dass die Erprobung durch die Tarnmaßnahmen so wenig als möglich verfälscht wird. Schließlich geht es bei jedem Kilometer auf Testfahrten um Aerodynamik, Kühlung, Geräuschentwicklung oder Korrosion.
Die Folien selbst auf die Fahrzeuge aufzubringen ist eine Wissenschaft für sich. „Zwei Personen brauchen etwa einen Tag, um zu diesem frühen Zeitpunkt der Testfahrten die Maximaltarnung aufzubringen“, erklärt David Ferrufino, „hierzu werden nicht nur Folien aufgebracht, sondern auch Schalen aufgeschraubt. Wenn es schneller gehen soll, arbeiten gleichzeitig vier oder fünf Personen an einem Auto.“ Gerade wird die Schulter des Prototypens mit drei Millimeter dicken ABS-Kunststoffteilen verziert; pro Auto sind es je nach Modell rund 20 Elemente. Details wie Türgriffe, Außenspiegel und insbesondere die Leuchten werden dabei aufwendig abklebt. An der Wand vor dem Prototyp steht ein großes Regalsystem, in dem sich die einzelnen Techniker bei der Verplankung bedienen.
„Die Kunststoffschalen machen den Wagen nur rund zehn Kilogramm schwerer und beeinträchtigen die Fahrtests nur minimal“, erklärt BMW-Ingenieur Thomas Nock, „das ist den Entwicklern besonders wichtig.“ Erst jetzt fällt auf, dass es sich bei den beiden Auspuffendrohren in der Heckschürze des Fahrzeugs um Aufkleber handelt. Kein Wunder, denn das vermeintliche BMW 4er Gran Coupé hat sich durch den auf der Tür und am Heck aufgebrachten Aufkleber „Electric Vehicle“ nicht erst bei näherem Hinsehen als das Elektromodell i4 entpuppt. Und da der Verbrenner unter der Motorhaube fehlt, sind die Endrohre eher Technik-Schabernack denn ernsthafte Tarnung.
Längst ist es mit dem Tarnen von Türen, Hauben und Klappen nicht getan. „Natürlich muss auch der Innenraum getarnt werden“, ergänzt Thomas Nock, „der Innenraum wird komplett mit Matten abgedeckt, damit auch hier nichts zu erkennen ist.“ Auf den Erprobungsfahrten werden die schwarzen Matten größtenteils abgenommen, damit die Testingenieure auf ihren Entwicklungsfahrten Anzeigen und Bedienelemente bedienen können. Steht der Wagen irgendwo außerhalb der Werkstore, wird der gesamte Innenraum mit Matten unkenntlich gemacht. Jetzt geht es für den Prototypen des BMW i4 erst einmal auf die Straße zum Testkilometer schrubben – rein elektrisch und bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
TEXT Stefan Grundhoff; press-inform