Der Erste Weltkrieg ist vorbei, die Menschen sehnen sich nach Helden. Die finden sie vor allem im Motorsport. 1925 gibt es zum ersten Mal eine offizielle Automobil-Weltmeisterschaft. Im selben Jahr heben im hessischen Schotten eine Handvoll der zu dieser Zeit 2.381 Einwohner ein Motorradrennen aus der Taufe. Sie stecken einen rund 16 Kilometer langen Rundkurs ab: den Schottenring. Von Schotten führt die Strecke anfangs entgegen dem Uhrzeigersinn an Götzen vorbei bis zu einem rund 300 Meter höher gelegenen Waldstück mit dem schönen Namen Poppenstruth. Von da geht’s wieder bergab durch das Tal des Flüsschens Nidda mitten durch den Ort Rudingshain zurück nach Schotten.
Im Jahr 1925 ist der Vogelsbergkreis, rund 75 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main, eine sehr ländliche Gegend. Die Straßen sind schmal und zum Teil unbefestigt. Zur Bekämpfung des aufgewirbelten Staubs laden die örtlichen Landwirte Wasser in ihre Gülletransporter und nässen die Rennstrecke. Langsame Kurven gibt’s nur wenige, das Durchschnittstempo ist hoch. Leitplanken sind noch nicht erfunden, stattdessen stehen fast überall dicke Bäume und in den Ortsdurchfahrten genauso unnachgiebige Häuser direkt am Pistenrand. Eine echte Herausforderung für die wagemutigen Männer auf ihren Höllenmaschinen. Ganz im Stil der 18 Jahre älteren Tourist Trophy auf der Isle of Man.
Heute ist der Schottenring noch zu rund 90 Prozent erhalten, das meiste als ganz normale Landstraße. Genau das richtige Revier für den Toyota GR Supra. Mit Hinterradantrieb, 258 PS und vergleichsweise geringem Einsatzgewicht von rund 1.400 Kilogramm macht dem japanischen Coupé in Sachen Agilität in dieser Preisklasse so schnell keiner was vor. Dazu passt das perfekt auf den Fahrer konzentrierte Cockpit, der tief und durch den hohen und breiten Mitteltunnel fast wie in einem Formel-Fahrzeug sitzt.
Die Idee von Friedrich Wilhelm Engler und seinen Mitstreitern aus dem „Vogelsberger Automobil- und Motorradclub“ zündet. 1930, nur fünf Jahre nach der Premiere, kommen mehr als 50.000 Zuschauer zu einem Lauf zur Deutschen Motorrad-Meisterschaft zum Schottenring. Der Rundfunk überträgt live, zu dieser Zeit eine Sensation. 1938 starten zum ersten Mal auch Sportwagen auf der inzwischen komplett asphaltierten Strecke. Der Zweite Weltkrieg macht der aufstrebenden Veranstaltung einen Strich durch die Zukunftspläne.
1947 legt der in „Motorsportclub Rund um Schotten“ umbenannte Verein einen Neustart hin. Die Wiederaufnahme des Rennbetriebs auf dem Schottenring ist ein Riesenerfolg. Die Duelle der beiden BMW-Werksfahrer Georg „Schorsch“ Meier (1910-1999) und Walter Zeller (1927-1995) wollen bis zu 260.000 Zuschauer sehen. Viele davon angereist mit Sonderzügen aus Frankfurt und bestens gerüstet für ein Wochenende Camping. Man kann sich in etwa eine Atmosphäre wie heute beim 24-Stunden-Rennen am Nürburgring vorstellen.
Besonders beliebt als Zuschauerpunkte waren damals das „Karussell“ und zwei Kehren im oberen Bereich, zeitgenössisch „Serpentinen“ genannt. Das Karussell gibt’s nicht mehr, die Kehren sind immer noch da. Anbremsen, manuell runterschalten mit den Lenkradwippen der Achtgang-Automatik, Einlenkverhalten fast wie ein Go-Kart, beim Rausbeschleunigen den im Sport-Modus angeschärften Zweiliter-Turbo bis knapp über 6.000 drehen. Das geht 2022 mit dem Toyota Supra deutlich leichter von der Hand als 1925 mit einer Horex T5 oder 1953 mit der BMW RS 54. Und die Sportwagen-Piloten der 1930er Jahre konnten vom Seitenhalt der Sportsitze des Supra nur träumen.
Seinen sportlichen Höhepunkt erlebt der Schottenring in der Saison 1953: Der MSC ist Ausrichter des Großen Preis von Deutschland um die Motorrad-Weltmeisterschaft. Das Gastspiel der WM bleibt allerdings einmalig. Noch geschockt durch fünf Tote beim WM-Lauf auf der Isle of Man kurz zuvor, weigern sich die Piloten zunächst, auf der aus ihrer Sicht zu gefährlichen Strecke anzutreten, die mittlerweile im Uhrzeigersinn gefahren wird. Die kleinen Hubraumklassen starten dann doch, aber das WM-Prädikat ist schon nach der Premiere wieder Geschichte. 1956 sorgt ein Zuständigkeitsgerangel zwischen den Dachverbänden DMV und ADAC sogar für das komplette Aus von „Rund um Schotten“.
Die Gebäude des Start-Ziel-Bereichs am Ortsrand von Rudingshain, zum Teil nach dem Zweiten Weltkrieg mit abenteuerlichen Methoden vom ursprünglichen Standort in Schotten hierher verfrachtet, werden abgerissen. Auch keine Spur existiert mehr von den provisorischen Tribünen. Heute erinnert nur noch eine halb zugewachsene Straßenunterführung, die einst Zuschauerbereich und Fahrerlager miteinander verband, an die große Zeit des Schottenrings als Rennstrecke.
Erst 1968 brummen im Niddatal wieder Rennmotoren, wenn auch nur auf einem Teil der früheren Strecke. Der MSC richtet zum ersten Mal einen Bergpreis auf dem Schottenring aus, für Motorräder und Automobile. Start ist am Ortsende von Rudingshain, das Ziel liegt gut drei Kilometer später und 160 Meter höher kurz nach der Wende am Poppenstruth, dem höchsten Punkt der Strecke.
Vom Poppenstruth hinunter nach Schotten schwingt sich die Strecke in sanften Kurven durch den Wald. Gebremst wird hier wenig. Man mag sich lieber nicht vorstellen, wie das war, hier mit Trennscheiben-dünnen Reifen und nur rudimentär vorhandenen Bremsen mit vollem Zug auf der Kette in Richtung Tal zu knattern. Der Toyota GR Supra hat fette Michelin Super Sport drauf. Die kommen im Rahmen der StVO hier nicht an ihre Grenzen. Im Zusammenspiel mit Sperrdifferenzial, Sportfahrwerk, dank Front-Mittelmotor ausgeglichener Gewichtsverteilung und niedrigem Schwerpunkt bauen die Gummis Traktion und Seitenführungskräfte auf, die sich nur auf der Rennstrecke ausreizen lassen.
Anders als der Bergpreis nutzt zeitweise die Rallye Hessen, ein Lauf zur Deutschen Meisterschaft, den gesamten Schottenring als Wertungsprüfung. Anfang der 1980er Jahre ist in Schotten außerdem das deutsche Opel-Werksteam beheimatet, in der Werkstatt von Reinhard Hainbach.
1986 kommt es zur Katastrophe
Formel-1-Pilot Marc Surer verliert im Abschnitt zwischen Schotten und Rudingshain wohl aufgrund eines Reifenschadens die Kontrolle über seinen Ford RS 200 und rutscht mit hohem Tempo von der Strecke. Ein Baum entlang des Schottenring zerfetzt den Gruppe-B-Boliden, auslaufendes Benzin sorgt für eine gewaltige Explosion. Beifahrer Michel Wyder kommt ums Leben. Surer kann brennend aus dem Wrack kriechen. Ein Streckenposten ist geistesgegenwärtig genug, den Schweizer zwecks Löschung in einen nahegelegenen Bach zu werfen. „Er hat mir das Leben gerettet“, sagt Surer. Doch 14 Knochenbrüche und drei Wochen Koma bedeuten das Karriereende für ihn.
Der schwere Unfall ist einer der Sargnägel für die Gruppe B. Auch um das Niddatal machen Rallyeautos in den Folgejahren einen Bogen. Die Rallye Hessen zieht auf den Truppenübungsplatz Schwarzenborn um. Die Landstraßen, die heute noch immer rund 90 Prozent des historischen Schottenrings abbilden, gehören wieder ganzjährig den Wochenend-Bikern und Berufspendlern.
Erst in den frühen 2000er Jahren erlebt der Schottenring ein Comeback als Wertungsprüfung der Rallye Vogelsberg. Durch Erweiterung um Feld- und Waldwege innerhalb des Rings erreicht die Streckenlänge gelegentlich knapp 30 Kilometer. 2010 verschwindet der Rundkurs wieder aus dem Bild der Deutschen Rallye-Meisterschaft. Nur das Bergrennen gibt es heute noch. 130 Teilnehmer sind im vergangenen April am Start, Mario Minichberger holt sich mit einem VW Corrado den Gesamtsieg.
Die Historie der Motorradrennen pflegt der MSC mit dem „Classic Grand Prix“. Diese Gleichmäßigkeit- und Showveranstaltung für historische Maschinen findet allerdings auf einem nur 1,4 Kilometer langen Rundkurs auf einer Bundesstraße und in einem Gewerbegebiet am Stadtrand von Schotten statt.
Klingt weniger spektakulär, als es ist. Regelmäßig kann der MSC mehr als 200 Teilnehmer mit teilweise extrem seltenen Rennmaschinen und Gespannen auf dem Schottenring begrüßen. Gleichmäßigkeit bedeutet vielleicht, dass die Motorräder nicht auf der allerletzten Rille ums Eck‘ pfeifen. Ordentlich Gas gegeben wird trotzdem, für eine ordentliche Soundkulisse ist gesorgt. Auch die Stars der Oldtimer-Szene und der eine oder andere Ex-Weltmeister kommen gerne zum „Classic Grand Prix“, der dieses Jahr am Wochenende 20./21. August stattfindet (Infos: www.schottenring.de). Das Konzept geht auf: Die Show lockt bis zu 20.000 Besucher an.
Pläne für ein Formel 1-Rennen
Mehr als die zehnfache Anzahl werden in den 1970er Jahren für ein Projekt erträumt, das über die Planungsphase nie hinauskommt. Zu dieser Zeit wird allen Ernstes daran gearbeitet, im Niddatal eine Formel 1- und Motorrad-WM-taugliche Rennstrecke zu bauen. 6,3 Kilometer lang soll die Piste werden, die abseits der Rennen – ähnlich wie die Nordschleife des Nürburgrings – der Industrie für Testfahrten genutzt werden könnte. In der Mitte der damaligen Bundesrepublik sehen die Initiatoren einen Einzugsbereich mit rund vier Millionen Menschen. Ihnen schwebt laut Werbeprospekt eine „Mehrzweckanlage für Sport und Freizeit“ mit der „modernsten Rennstrecke Deutschlands“ als Zentrum vor.
Der ADAC Hessen als federführender Investor rechnet mit einem Finanzbedarf von 20 Millionen D-Mark. Dafür hätte man 1975 etwa 2.700 VW Käfer bekommen. Zum Vergleich: Für die gleiche Anzahl Golf in einfachster Ausstattung müsste man heute mehr als 60 Millionen Euro auf den Tisch des VW-Händlers blättern. Wenig verwunderlich: Das ambitionierte Projekt scheitert krachend. Anders als bei ähnlichen Manövern aus jüngerer Vergangenheit immerhin, bevor Unmengen von Steuergeldern in den Sand gesetzt sind.
TEXT Christian Schön
FOTOS Patrice Marker