Einfach hinkommen, tief einatmen und diese spektakuläre Atmosphäre genießen – den Charme, den der allemal prächtige Oldtimer Grand Prix am Nürburgring jeden Sommer vermissen lässt, findet der Automobilist bei den alle zwei Jahre stattfindenden Le Mans Classic. Natürlich profitiert der zum zehnten Mal ausgetragene Klassikevent von der phantastischen Rennstrecke – einzigartig auf der Welt. Man kann den zunehmend hybridisierenden Benzingeruch aktueller Le-Mans-Boliden noch spüren, denn das 24 Stunden Rennen von Le Mans ist nicht einmal drei Wochen vorbei – da bebt der Asphalt des Sarthe-Kurses ohne dass einer der rund 8.000 Klassiker einen Meter beim Klassikevent gefahren ist.
Jerome Cloup und seine Frau kommen als Aussteller jedes Mal zu Le Mans Classic. „Die Atmosphäre hier ist einfach einzigartig. Die Leute lieben Autos und speziell Sportwagen“, lächelt Jerome, der sehenswerte Bilder rund um sportliche Automobile zeichnet, „so wie wir. Das tolle Wetter macht die erste Veranstaltung nach Corona diesmal natürlich besonders schön.“
Die bis zu 200.000 Fans kommen nicht aus ganz Europa, denn im Vergleich zu anderen Oldtimer- und Rennsportevents spricht man hier nicht nur aus den hunderten von Lautsprechern lautstark und unbeirrt Französisch, man lebt es. Die meisten Besucher kommen zu den Le Mans Classics mit ihren eigenen Klassikern und das mitunter mehr als 1.000 Kilometer auf Achse. Trotzdem reisen die meisten aus dem Heimatland Frankreich, dem benachbarten England und Belgien sowie den Niederlanden an den Hochgeschwindigkeitskurs im französischen Niemandsland Le Mans – knapp zwei Stunden südwestlich von Paris.
Le Mans, eine Stadt, die man nicht gesehen haben muss, ist der Ausgangspunkt der Kornkammer Frankreichs. Hier in der Region gibt es nicht viel außer jener unvergleichlichen Rennstrecke, die jeder Motorsportfan einmal besucht haben sollte. Das gilt auch für die Veranstaltung der Le Mans Classics, denn diese sind eine wahre Schau. Das Programm: bunt, abwechslungsreich, spannend. Die Fans und Teilnehmer: autoverrückt, klassikverliebt und mehr denn je skurril.
Man reist auf eigener Achse – bestenfalls mit seinem Klassiker – in die Sarthe-Region, schmeißt neben seinem 200.000 Euro teuren Bentley Bentayga das 150-Euro-Wurfzelt aus, kraxelt auf seine G-Klasse in den Dachaufbau und mutet sich in Camper und winzigen Nasszellen ein verlängertes Wochenende zu, das schlicht begeistert. Die Shuttle-Fahrzeuge zwischen den einzelnen Stationen sind schmucke Citroen 2CV, Meharis, alte VW Bullys oder Willy Jeep mit Kriegsbemalung.
Man merkt an der Sarthe schnell, dass man mit dem Thema Zweiter Weltkrieg entspannter als in anderen Regionen Europas umgeht. Hier zieht eine Dixie Band durchs Le Mans Classic Village, da brüllen Tourenwagen fürs nächste Rennen, während Charles in seinem Friseursalon den Kunden im Schnelldurchgang die Haare schneidet. Jeder bezahlt das, was er mag. Rennsport-Urgesteine Karl Wendlinger oder Klaus Ludwig, gerade noch beim lässigen Talk am Mercedes-Stand, stülpen sich den Helm über und springen ins Cockpit von Flügeltürer und Co – zu 70 Jahren Mercedes SL gibt es ein paar Showrunden vor den Fans, sich die mit Pommes Frites, Erdbeeren, Schampus und Kaviar im großen oder kleinen stärken – jeder wie er mag.
Derweil donnern auf der Hunaudieres-Geraden jene spektakuläre Gruppe-C-Renner, die zwischen 1982 und 1993 die Motorsportwelt mit Geschwindigkeiten jenseits der 360 km/h berauschten. Wo bekommt man sonst im Rennbetrieb schon das 1991er-Siegerfahrzeug des Mazda 787 zu sehen und hören? Wo sonst donnert eine Horde Jaguar XJR-Silk-Cut-Boliden über Start und Ziel, während nächtens ein historischer Mercedes 300 SLS die Indianapolis-Kurve mit seinen lichtschwachen Funzeln durchpflügt?
Nahezu rund um die Uhr röhren, dröhnen und sprotzen leistungsgesteigerte Sechs-, Acht- und Zwölfzylindertriebwerke, präsentieren sich bei schnellen Showrunden und noch spannenderen Rennen Porsche 356, Ferrari Daytona, BMW 3.0 CSL oder Jaguar D-Type. Ein Fest für nahezu alle Sinne, weil das Paket aus Fahrzeugen, Publikum und Rennstrecke eben einfach unvergleichlich ist und der Veranstalter es mit seiner Erfahrung vom 24-Stunden-Rennen versteht, eine Veranstaltung mit seinem höchst französischen Charakter zu zelebrieren.
TEXT Stefan Grundhoff für WALTER