Zu jedem Fahrzeugmodell, das die Serienreife erreicht – oder auch nicht – existiert eine Reihe von Designstudien. Die meisten bekommen nur interne Entscheidungsträger zu sehen, ein paar schaffen es als Showcars auf Messen. Danach verschwinden sie in den Tiefen irgendwelcher Keller, stauben langsam ein und werden allzu häufig in der Hektik des Tagesgeschäftes vergessen. BMW ist in dieser Hinsicht nicht viel anders als die Konkurrenz. Der kleine Unterschied: Die Bayern gewährten uns Zutritt zum Archiv der Designabteilung.
Aus 2K2 wird das 1er Coupé
Mitte der 1990 Jahre machte sich eine kleine Gruppe um Designer Andreas Zapatinas daran, sozusagen unter dem Radar fliegend, den Klassiker BMW 2002 neu zu erfinden. Das Projekt erhielt den Codenamen 2K2 (für 2002). Der geborene Grieche Zapatinas adaptierte klassische Elemente des 2002 wie die Haifischnase im Stil des auslaufenden 20. Jahrhunderts. Doch das Projekt verlief zunächst im Sand. Bis BMW-Produktionsingenieur und 2002-Aficionado Ralf Langmeier den damaligen Designchef Chris Bangle fragte, ob er die Studie für ein neuartiges Produktionskonzept verwenden könne.
Die Idee war, ein 3er Coupé mit einer Karosserie aus leichten Verbundwerkstoffen auszustatten sowie schwere Komponenten wie die Gasdruckfedern der Motorhaube und die HiFi-Anlage rauszuwerfen, um auf ein Fahrzeuggewicht von unter 1.000 Kilogramm zu kommen. Designer Thomas Plath aktualisierte das Design von Zapatinas. So entstand das Showcar CS1, das BMW auf dem Genfer Automobilsalon im Frühjahr 2022 präsentierte.
Abgesehen vom nicht funktionsfähigen und zur Geheimhaltung der echten Dachlinie verwendeten Stoffverdeck entsprach die Studie bereits weitgehend dem zukünftigen 1er BMW. Auch die rund vier Prozent kleinere Karosserie des Showcars diente der Tarnung. Der amerikanische Designer Chris Chapman sorgte durch ein Zusammenspiel von konkaven und konvexen Flächen auf den Fahrzeugflanken für Lichtreflexe, die er „Flame Design“ nannte.
Auf Wunsch der Marketingabteilung machte der 1er als Fünftürer mit Heckklappe 2004 den Anfang. Das Coupé folgte 2007, auf das vom Showcar avisierte Cabrio mussten Fans bis 2008 warten. Die Spitze des Eisbergs bildete ab 2011 das 340 PS starke 1er M Coupé, mit weniger als 7.000 gebauten Stück heute ein Sammlermodell.
Zwei Millionen für Rückleuchten
Die Entstehungsgeschichte des Z3 Coupé aus den 1990er-Jahren ist fast zu romantisch, um wahr zu sein. Der Z3 war ursprünglich als Konkurrent zum Mazda MX5 konzipiert, als kompaktes Cabriolet mit kostengünstigem Vierzylindermotor. Aber Ingenieur Burkhard Göschel, eigentlich ein Motorenmann, der BMW ein paar Jahre zuvor den Zwölfzylinder beschert hatte, warf die Idee eines leistungsstarken Coupés auf derselben Plattform in den Ring. Ihm schwebte ein Sechszylinder vor, das Fahrzeug sollte bei den Motorsportlern der M GmbH in Kleinserie gebaut werden. Göschel wandte sich an Designchef Chris Bangle, der von der Idee begeistert war. Daraufhin reichten drei Stylisten Entwürfe ein, einer von ihnen Marcus Syring, damals Junior-Designer bei der M GmbH.
„Die zusätzlichen Kosten für das Coupé waren zunächst sehr hoch“, erzählte mir Syring. Knackpunkt war der sogenannte Hofmeister-Knick, ein spezieller Verlauf der C-Säule und für BMW ebenso ikonisch wie die Nierenform des Kühlergrills. „Dazu hätten wir neue Pressformen für die Karosserie von der A-Säule bis zum hinteren Kotflügel bauen müssen“, fährt Syring fort. Die kostengünstigere Lösung war, den hinteren Kotflügel als Einzelkomponente zu fertigen, der wie beim Roadster mit der C-Säule verbunden wurde.
Die Rückleuchten sollten eigentlich vom Roadster übernommen werden. Schauplatz: BMW-Teststrecke in Aschheim, ein erster Prototyp des Z3 Coupé dreht seine Runden. „Ich, Mitte 20, stand da mit Dr. Göschel und Dr. Wolfgang Reitzle. Sie fragten mich, was ich von den Rückleuchten des Roadsters am Coupé halte“, erinnert sich Syring an das Gespräch mit seinen Vorgesetzten. Der eine war Leiter der Baureihe Sondermodelle, der andere sogar Entwicklungsvorstand. „Ich sagte, sie sähen aus wie ein zerquetschter Hamburger“, erinnert sich Syring. Seine ehrliche Kritik trifft auf offene Ohren. „Reitzle antwortete mir: Sie haben zwei Millionen Mark, ändern Sie das“, grinst Marcus Syring, heute Chef des BMW M Designstudios.
Eine Tänzerin als Namensgeberin
Bei der Wiedereröffnung des Werksmuseums im Jahr 2008 sorgte BMW mit einem Konzeptfahrzeug mit Stoffkarosserie für Aufsehen. Projekt GINA markierte die Abkehr vom „Flame Design“ der Jahrtausendwende. Die Idee dazu entstand bereits 2002 und prägte das Design von BMW mehr als zum damaligen Zeitpunkt vorhersehbar.
Offiziell waren die Buchstaben GINA im Namen des Showcars Gina Vision Light die Abkürzung für „Geometrie und Funktionen in N-Anpassungen“, wobei N für unendlich stand. Doch die inoffizielle Variante dieser Geschichte ist viel schöner. Demnach entstand die Idee, wie alle guten Einfälle, in einer Bar. Der Sage nach wirbelte dort eine Tänzerin namens Gina mit Stoffen herum. Die Darbietung animierte zur Frage: Was wäre, wenn man eine Karosserie aus Stoff herstellen könnte? Gar nicht so abwegig, wie es klingt: Stoff ist leichter als Metall und einfacher zu verarbeiten. Außerdem ist Stoff hochflexibel und lässt Formen, Merkmale und Faltungen zu, die mit einem festen Material nahezu unmöglich sind.
Das beim Projekt GINA angewandte Verfahren nutzte BMW anschließend bei zahlreichen Design-Entwürfen. „Die Philosophie GINA bietet Designern und Experten aus Entwicklung und Produktion die Möglichkeit, bestehende Grundsätze und gewohnte Vorgehensweisen zu hinterfragen. Ohne Vorbedingungen und aus möglichst vielen Perspektiven werden die Möglichkeiten ausgelotet, die sich für das Automobil der Zukunft bieten“, beschreibt ein zeitgenössischer Pressetext. In der Folge arbeiteten die Designer mit stoffbespannten Armaturentafeln und sogar Motorkomponenten aus Stoff. Vielleicht am verblüffendsten waren zwei Prototypen zum 2007 präsentierten Coupé der 3er Reihe (E93): Deren gesamte Karosserie bestand aus Stoff.
Die mit dem Projekt GINA gemachten Erfahrungen ebneten auch den Weg zu völlig neuen Formen der Individualisierung, angewendet erstmals bei der Fertigung von Motorhauben für den BMW Z4 M Roadster und das BMW Z4 M Coupé. Sie erhielten ihre markanten Konturlinien in einem gesonderten Produktionsschritt, der von der herkömmlichen Blechbearbeitung maßgeblich abweicht. Dabei wurden die Linien mithilfe eines von einem Fertigungsroboter geführten Stahlstiftes millimetergenau in die Hauben eingeprägt.
Die Evolution von Designskizzen
So wie sich die Fertigungsmethoden von Konzeptfahrzeugen im Laufe der Jahre änderten, so entwickelte sich auch die Methode, Designskizzen anzufertigen. Der Kontrast zwischen der zeichnerischen Präzision der 1970er-Jahre und den digitalen, farbgesättigten Bildern von heute ist hoch.
Die Zeichnung des BMW 2002 stammt von Manfred Rennen, der ab Mitte der 1960er-Jahre zwei Jahrzehnte lang als Stylist in München tätig war. Seine Darstellung zeigt jedes Detail, bis hin zu den Schrauben an den Radkästen, das Ganze auf leuchtend orangefarbenem Papier zum Leben erweckt.
Mitte der 1980er-Jahre zeichnete Stefan Stark den stilisierten BMW Z1. Dafür verwendete er Kreide und Marker auf Pergamentpapier. „Meine Absicht war es, eine dynamische und schöne Atmosphäre zu schaffen. So wie man sie bekommt, wenn man aus einem Regenschauer zurück in die Sonne fährt“, beschreibt Stark seinen Stil.
Das BMW M8 Cabrio stamm von seinem Designer Jacek Peplowski. „Ich habe es eher gemalt als gezeichnet und dabei versucht, die Muskeln des Autos einzufangen, die unter der Karosserie schlummern“, erläutert er. „Die Farben sind durch die kalifornische Wüste inspiriert, wo der Sonnenuntergang eine unglaubliche Bandbreite an Farbtönen bietet. Es ist fast so, als würde das Auto die Umgebung auf die Temperatur der Sonne aufheizen.“
Die ewige Suche nach der 9er Serie
Eines der wiederkehrenden Themen in den Designarchiven von BMW ist das Streben, den Raum oberhalb der 7er Serie und unterhalb der Rolls-Royce-Modelle zu füllen. Man könnte von 9er oder sogar 11er Baureihen sprechen. Es ist sicher kein Geheimnis, dass BMW in einer Preisklasse präsent sein wollte, in der Konkurrent Bentley zu Hause war.
Mitte der 1990er-Jahre kooperierte BMW mit Rolls-Royce/Bentley, die britischen Luxusmarken bezogen V8- und V12-Motoren aus München. Zur gleichen Zeit begann das Designteam, darüber nachzudenken, wie ein BWM oberhalb der 7er Baureihe aussehen könnte. Designer Joji Nagashima entwarf einen BMW mit V12-Motor, lange bevor Rolls-Royce Teil der BMW-Gruppe wurde.
Nachdem BMW im Jahr 2003 Rolls-Royce übernommen hatte, begannen die Arbeiten an einer Premium-Plattform, auf der ein High-End-BMW und ein Low-End-Rolls-Royce basieren könnten. Karim Habib, ein Kanadier mit Wurzeln im Libanon und heute Designchef bei Kia, entwarf das Showcar mit dem Namen Concept CS. Das Luxusfahrzeug, das als viertüriges Coupé und Cabriolet geplant war, fiel als Ganzes allerdings der Weltwirtschaftskrise von 2008 zum Opfer. Nur einige Designelemente fanden ihren Weg in nachfolgende Generationen der 7er und 5er Baureihe.
Früher war mehr Orange
Heute sind die meisten BMW silber oder schwarz lackiert. Das war in den frühen 1970er-Jahren noch anders. Zu dieser Zeit ist Paul Bracq Designchef bei der Münchener Marke. Der Franzose entwarf unter anderem das 6er Coupé (E24) und die erste 3er Baureihe (E21), die beide lange und spitz zulaufende Motorhauben aufweisen. Bracq vielleicht spektakulärste Kreation ist der Technologieträger BMW Turbo X1, der 1972 vor der berühmten Konzernzentrale („Vierzylinder“) in München vorgestellt wurde.
Die rubinrote Karosserie mit vulkanorangenen Stoßfängern vorne und hinten entsprachen dem Farbempfinden der Zeit. Doch wie kam Bracq auf diese Kombination? Das Rot entlehnte er seinem privaten Porsche 356. Das Orange war nach Bracqs Erzählung inspiriert von den Trainingsjets der französischen Luftwaffe, die vor seinem früheren Designstudio in Frankreich standen. Als die Armée de l’Air & de l’Espace dazu überging, statt Farbe Folierung zu verwenden, schwatzte ihnen Bracq die Restbestände Orange ab und verwendete den Lack für seine BMW-Entwürfe.
Viele aus dem Technologieträger X1 Turbo stammenden Details wurden in den späteren BMW M1 übernommen. Neben den Klappscheinwerfer zählte auch die Farbe Orange dazu.
Vom V10 zum i8
Werner Haumayr ist als Vice President BMW Group Design Concept and Integration einer der ranghöchsten Mitarbeiter im BMW-Design. „Ich schätze, dass hier jeden Tag jemand einen M1 entwirft. Man könnte ein Buch über die M1 machen, die wir nie gebaut haben“, scherzt der gebürtige Münchener. Tatsächlich schwebt der Geist des von 1978 bis 1981 gebauten Mittelmotor-Sportwagens noch immer über der Abteilung. Eine der jüngeren Studien zu diesem Thema ist das Projekt I16. Diese Version des Vision M Next Concept, die 2023 zu 95 Prozent serienreif war, vereinigt Stilelemente des M1 mit der Technologie des Elektrosportwagens i8.
Bereits 16 Jahre alt ist das Konzept M1 Hommage. Das 2008 präsentierte Showcar war aus Harz gefertigt und rot lackiert. In den heiligen Hallen von BMW steht aber auch ein Vorläufer in Weiß. Das gesamte Projekt wurde in nur vier Monaten durchgezogen. Mit heutigen digitalen Werkzeugen und Rapid-Prototyping-Methoden sicher keine allzu große Kunst, damals aber eine Mammutaufgabe. Ein Zwischenschritt war das besagte weiße Modell. Aus Styropor hergestellt, diente es dazu, das Design in voller Größe zu visualisieren.
Der fertige M1 Hommage trug den aus der Formel 1 stammenden V10-Motor, der später im BMW M5 für atemberaubende Fahrleistungen sorgte. Zum Leidwesen der Fans wurde das Projekt nicht weiterverfolgt. Durstige Hochdrehzahl-Motoren waren plötzlich nicht mehr zeitgemäß.
BMW reagierte auf die geänderten Rahmenbedingungen mit dem Technologieträger Vision EfficientDynamics (2009). Offizielle Beschreibung: Der als Plug-in-Fahrzeug mit Voll-Hybrid-Technologie konzipierte 2+2-Sitzer kombinierte die Fahrleistungen eines BMW M Automobils mit Verbrauchswerten, die sogar das Niveau aktueller Kleinwagen unterschreiten. Aus dem Vision EfficientDynamics ging der auf der IAA 2013 präsentierte BMW i8 hervor, der erste Plug-in-Hybrid-Sportwagen der Marke.
TEXT Steve Saxty
FOTOS BMW Archiv
In seinem Buch BMW BY DESIGN bietet Autor Steve Saxty noch viele weitere Einblicke in die geheime Welt von BMW. Erhältlich ist es auf www.stevesaxty.com/bmw zum Preis von 91,35 Euro.