Fragende Blicke sind für Werner Fahnert nichts Neues, seit er den Jidé 1600 S mit dem goldenen Näschen sein Eigen nennt. Doch ein so prominenter Beobachter wie bei der Rallye Deutschland 2010 ist selten um sein Auto geschlichen. Nasser Al-Attiyah betrachtete das Objekt wie ein Kind, das zum ersten Mal ein Smartphone in der Hand hält. Der spätere Dakar-Sieger konnte sich keinen Reim daraus machen, von welcher Marke der Flachmann stammte. „Erkennen Sie dieses Fahrzeug?“ – wäre das nicht mal eine 1-Million-Euro-Frage bei Günther Jauch.
Für alle potenziellen Kandidaten hier die Antwort: Der Sportwagen hört auf den Namen Jidé 1600 S und ist benannt nach den Initialen des damaligen Erbauers Jacques Durand. Der Konstrukteur hatte schon für so illustre Automobilhersteller wie Arista, Atla oder Sovam – weitere Kandidaten für die Jauch-Frage, oder? – gearbeitet, als er 1969 den Mut fasste, sein eigenes Unternehmen zu gründen. In einem Hinterhof in der französischen Einöde, genauer gesagt in Châtillon-sur-Thouet auf halbem Weg zwischen Le Mans und Bordeaux, wollte der Ingenieur eine ehrgeizige Vision umsetzen: vom Ford GT40 inspiriert wollte Durand eine bessere Alpine bauen.
Optisch ist ihm die Symbiose durchaus gelungen, in der Seitenansicht wird die Anlehnung an den GT40 deutlich. Ansonsten hat die Jidé allerdings so viel mit dem Supersportler aus den Staaten gemeinsam wie ein Skispringer mit einem muskelbepackten Body-Builder. Dafür eifert die Jidé ihrem französischen Vorbild in vielerlei Hinsicht nach. Die Außenhaut besteht aus Polyester und wird einfach über die Rahmenkonstruktion gestülpt – genau wie bei der Alpine also.
Technisch sind die Franco-Flundern fast wie Zwillinge: Vorderachse, Fünfganggetriebe und der 1,6-Liter-Motor sind bei beiden Fahrzeugen baugleich, da sich Jacques Durand genau wie Alpine-Gründer Jean Rédélé einfach im Lager von Renault bediente. Wohin man schaut, die Jidé ist ein Potpourri von Teilen aus dem Staatskonzern. So stammt die Windschutzscheibe aus dem Renault Floride, die Rückleuchten und Türgriffe aus dem R8, die Scheibenbremsen vorn aus dem R16 TS und hinten aus dem R12. Letztgenannte Limousine spendete auch ihre Vorderachse, die bei der Jidé jedoch hinten (und dadurch umgedreht) verbaut wurde.
So groß die Gemeinsamkeiten zwischen Alpine A110 und Jidé 1600 S sein mögen, Jacques Durand ging bei einigen Dingen auch seinen eigenen Weg. Der Konstrukteur baute die Karosserie um einen Doppelschleifenrahmen, der mehr Steifigkeit versprach als der Zentralrohrrahmen der A110. Zudem verzichtete er auf eine Rückbank und pflanzte stattdessen den Motor in den Nacken von Fahrer und Beifahrer. Lediglich das Getriebe ragte über die Hinterachse hinaus. Das verbesserte nicht nur die Gewichtsverteilung auf erträgliche 44:56, es sparte auch Platz.
Obwohl der Radstand der Jidé 14 Zentimeter länger ist, ist der Wagen insgesamt 14 Zentimeter kürzer als die A110 – und noch einmal zwölf Zentimeter flacher! Mit einer Dachhöhe von exakt einem Meter würde die Jidé jeden Limbo-Wettbewerb für Automobile gewinnen. Wir stellen einfach mal die Behauptung auf: Die Jidé ist das flachste Rallyeauto, das es je gab. Wer einen Gegenbeweis hat, sendet bitte eine Nachricht an info@walter-magazin.de. Wir gehen dieser Frage gerne weiter auf den Grund.
Top-Werte erreicht die Jidé auch auf der Waage. Das Werk gab früher ein Leergewicht von 640 Kilogramm an, Fahnerts Exemplar bringt rund 100 Kilo mehr auf die Waage. „Die Jidé ist nicht unbedingt leichter als eine Alpine“, erklärt der Besitzer mit stolzem Blick auf sein Schätzchen. Dann zieht er genussvoll an seiner Gauloises und schiebt nüchtern hinterher: „Aber sie ist eine bessere Alpine.“
Kein schelmisches Grinsen, kein Augenzwinkern. Fahnert meint die an Majestätsbeleidigung grenzende Einschätzung ernst. Und er weiß, wovon er spricht. Seitdem er erstmals eine Alpine A110 live und in Farbe gesehen hat, ist er ein Fan der Plastik-Flunder aus dem nordfranzösischen Dieppe. Das war 1978 bei einem Slalom auf der Kartbahn Hahn-Wildbergerhütte. „Wir sind gerade zur Strecke gekommen und standen noch etwas unterhalb der Fahrbahn, als dieses Auto beim Start die Nase hebt und dann in einem ungeheuren Tempo auf mich zuschießt – und das auf Augenhöhe“, erklärt der Mann aus Waldbröl im Oberbergischen. „Ich wusste damals nicht mal, dass es eine Alpine ist. Aber ab dem Moment war ich verfallen.“
Drei Monate später stand die erste Alpine in seiner Garage, für 9.500 Mark hatte er eine brave serienmäßige A110 1300 VC in Nürnberg erworben. In den nächsten 37 Jahren sollten noch einige weitere Exemplare folgen – mit exponentiell ansteigender Leistungskurve. Als Fahnert zusammen mit seinem Freund und fortan langjährigen Beifahrer Klaus Hucke 1995 seine erste Rallye bestritt, nannte er eine A110 1800 in der breitbackigen Gruppe-4-Version sein Eigen, so wie sie 1973 den ersten Titel in der neu gegründeten Rallye-Weltmeisterschaft holte.
Seit jener Rallye Deutschland gehören Fahnert/Hucke zu den treuesten Anhängern von Reinhard Kleins „Slowly Sideways“-Bewegung. Dazu gab es ab und an mal ein Gastspiel im „richtigen Sport“. Allen voran bei der Rallye Köln-Ahrweiler, wo sich gute Ergebnisse mit Enttäuschungen abwechselten. Bei zehn Einsätzen erzielten Fahnert/Hucke einen Gruppen- und drei Klassensiege. „Da wäre noch mehr drin gewesen“, resümiert der 62-Jährige. „In den besten Jahren sind wir aber immer ausgefallen. Wenn die Reifen funktioniert haben, dann war die Belastung für die Technik zu groß.“
Mittlerweile startet Fahnert zwar nicht mehr im Wettbewerb und sagt von sich selbst, dass er ruhiger geworden ist. Das bedeutet aber nicht, dass er auf Motorleistung verzichtet. Im Gegenteil. Vor einigen Jahren baute der Alpinist mit Freunden eine der schnellsten A110er aller Zeiten. Herzstück des Autos ist ein seltener 16V-Versuchsmotor. Damit dieser ins Heck passte und auch genug Kühlung bekam, wurde eine Gruppe-5-Heckhaube mit eingebautem Heckspoiler gefahren, wodurch die Alpine so aussieht wie eine Kreuzung aus Nemo und dem Weißen Hai.
Dieses Monster von einer A110 ist auch schuld daran, dass Fahnert eine Liaison mit der Jidé einging. „Ich war auf Entzug“, gibt der Unternehmer, dessen Firma alles vom Aufkleber bis zur Leuchtreklame gestaltet und druckt, zu. „Die Gruppe-4-Alpine hatte ich verkauft, die 16V war noch nicht fertig und ich brauchte was zum Fahren.“
Da kam ihm das von Jacques Durand geformte Plastik-Geschöpf in den Sinn, das der Alpine so nahe kommt wie kein anderes Rallyeauto. Über zwei Jahrzehnte hatte Fahnert den Werdegang dieser speziellen Jidé verfolgt, ein Kauf kam für ihn aber nie in Frage, weil er nicht wusste, was er mit dem Auto anfangen sollte. „Erst als ich herausbekommen habe, dass Jean Ragnotti mal so eine Jidé gefahren ist, war das Auto interessant“, so der 62-Jährige. Diese Historie qualifizierte die Jidé S 1600 für die Slowly-Sideways-Events.
Der umtriebige Jacques Durand kopierte das Vorbild Alpine nämlich auch in Sachen Motorsport. Genau wie einst Jean Rédélé nutzte er Rallyes als Plattform, um die Qualität seiner Konstruktion zu zeigen. Schon im Gründungsjahr 1969 nahm eine der Polyester-Flundern an der Tour de France teil, fiel aber aus. In den folgenden Jahren bildete Durand ein kleines Werksteam, das es auf der Rundstrecke, am Berg und bei Rallyes mit der Konkurrenz aufnahm. Prominentester Werksfahrer war ein aufstrebender 27-Jähriger von der Côte d’Azur, der 1970 auf einem Opel Kadett B französischer Vizemeister geworden war und den zweiten Platz bei der Tulpenrallye geholt hatte. Eben jener Jean Ragnotti
Mangels ausreichender Produktionsmenge – Schätzungen variieren zwischen unter 100 bis 170 gebauten Exemplaren – blieb die Jidé Zeit ihres Lebens in der Gruppe 5, wo sie es mit stärkeren Prototypen zu tun bekam. Beim Critérium des Cevennes, Ragnottis erfolgreichstem Einsatz im Jidé, etwa trat die 1600er-Jidé gegen Konkurrenten wie den Simca CG Proto MC, den Ford GT70 oder den noch nicht homologierten Porsche 911 RS an. Alpine schickte seine Alpine mit 1,6-Liter-Turbomotor in der Experimentalklasse ins Rennen. Später nutzte auch Lancia-Teamchef Cesare Fiorio diese Kategorie, um mit dem Stratos die erste Gehversuche zu unternehmen.
„Jeannot“ schlug sich in dem stark besetzten Feld der Critérium des Cevennes wacker. Die Jidé konnte zwar nicht das Tempo der anderen Prototypen mitgehen, Ragnotti fuhr in der zweiten Hälfte aber auf dem Niveau der besten Gruppe-4-Alpines mit dem größeren 1,8-Liter-Motor und erzielte sogar eine Gesamtbestzeit. Wegen anfänglicher Probleme, vor allem durch Reifenschäden, sprang jedoch nur ein siebter Platz heraus.
Hätte die Jidé 1600 S also tatsächlich eine bessere und erfolgreichere Alpine werden können? Besitzer Werner Fahnert ist sich sicher: „Ja! Durch den Mittelmotor sind Gewichtsverteilung und Handling besser. Die Alpine ist eher wie ein Quarter Horse – ein Allrounder –, die Jidé hat dagegen mehr von einem Araberhengst. Alle Kommandos werden sofort umgesetzt.“
Unter Pferdefreunden haben Araber den Ruf, gute Sportler zu sein. Sie gelten als robust, ausdauernd und gelehrig. Fahnerts Jidé konnte man das Attribut „ausdauernd“ bislang noch nicht nachsagen. Beim jüngsten Eifel Rallye Festival beispielsweise musste der Waldbröler schon am Freitagabend vorzeitig aufgeben. Zum einen war die Vorderachse zu weich und schlug durch, verursacht durch einen Denkfehler des langjährigen Alpine-Fahrers. „Ich hatte nicht bedacht, dass die Jidé wegen des Mittelmotors 100 Kilometer mehr auf die Vorderachse bringt.“ Zum anderen hatte Fahnert nur 13-Zoll-Regenreifen dabei, auf denen die Jidé zu tief lag. Die speziell für ihn angefertigten 15-Zoll-Felgen wurden nicht rechtzeitig geliefert – eines der typischen Probleme bei einem so seltenen Auto, wo praktisch jede Lösung eine Speziallösung ist. Fahnert hat also noch etwas Entwicklungsarbeit vor.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum der Jidé S 1600 trotz der guten Anlagen keine bedeutenden Erfolge vergönnt waren. Henri „Cocotte“ Rimaudiére, der fleißigste unter den Jidé-Piloten, holte in der vierjährigen Rallyekarriere des Flachmanns zwar ein paar Gesamtsiege, aber mit einem Pokal von der Rallye du Poitou oder Ronde Limousin verkauft man eben keine nennenswerten Stückzahlen. Jacques Durand blieb der großen Durchbruch seines Vorbilds Jean Rédélé verwehrt. 1973 musste er das Abenteuer in der Provinz wegen finanzieller Probleme beenden. Seine Initialen „Ji-dé“ sind außerhalb der Grande Nation nie bekannt geworden – nicht mal bei einem Dakar-Sieger.
TEXT Sebastian Klein
FOTOS Sascha Dörrenbächer