Zurück in die Zukunft. Dieses Motto hat bei Bentley Tradition. Normalerweise sind es die Namen, die die glorreiche Vergangenheit des britischen Autobauers zitieren. Doch jetzt haben die Designer tief im Bildarchiv gekramt und Fotos des Bentley S2 (von dem es auch einen Continental als Sportversion gab) wieder aufgetaucht, der mit zwei Kulleraugen keck in die Welt blickte. Also erhält die vierte Generation des Bentley Continental nun erstmals auch das Zwei-Augen-Gesicht ihres Urahnen.
Natürlich hat das Antlitz des modernen Continental der vierten Generation nichts mehr von dem barocken Kindchenschema, sondern blitzt aufgrund der betonten Augenlider angriffslustig. Die vierte Generation des Bentley Continental hat zu 68 Prozent neue Teile gegenüber dem Vorgänger. Überhaupt haben sich die Formgeber Mühe gegeben, den Gran Turismo sportlicher aussehen zu lassen als bisher. Die schmalen Heckleuchten verleihen diesem Ansinnen ebenfalls Ausdruck. Hat hier jemand Alpine A110 gesagt? Damit diese formelle Dynamik auch Substanz bekommt, haben die Briten den Antriebsstrang des Porsche Panamera Turbo S E-Hybrid genommen und in den Continental gepackt. Die Transplantation ist kein großer Akt, schließlich teilen sich der Brite und der Zuffenhausener die Technik.
Die Ingenieure auf der Insel geben sich immer größte Mühe, den nahen Verwandtschaftsgrad zu verbergen. Mit Erfolg. Doch beim Antrieb des Continental GT Speed war das offenbar nicht möglich. Mit mehr Leistung hätte man Porsche verstimmt und weniger hätte man in Crewe als nicht standesgemäß empfunden. Schließlich kostet dieser Bentley 293.200 Euro und trägt zudem noch den Zusatz Speed im Namen. Dahinter verbirgt sich eine Kombination aus einem Vierliter-V8 mit 600 PS und einem Elektromotor mit 190 PS. Die Addition der beiden Antriebswelten ergibt einen Plug-in-Hybriden mit 782 PS und einem monströsen maximalen Drehmoment von 1.000 Newtonmetern. Das macht den Continental zum stärksten Serien-Bentley aller Zeiten.
Das passt zum Continental, der mehr Luxus-Gran-Tourer sein will als Business-Limousine, mit der der gestresste Top-Manager auf der Rennstrecke auch mal die Sau rauslassen kann. Bei der elektrischen Reichweite herrscht dann mit den 81 Kilometern, die Bentley angibt, dann wieder Gleichstand. Dass der Bentley 94 Kilogramm mehr wiegt als der Panamera, merkt man am Standardsprint von null auf 100 km/h, bei dem der Continental mit 3,2 Sekunden um gerade mal 0,3 Sekunden das Nachsehen hat. Dafür haben die Briten mit 335 km/h bei der Höchstgeschwindigkeit zehn km/h mehr freigeschaltet.
Bei einem Bentley geht es nur selten um einen Ampelstart oder ein Beschleunigungsrennen. Zu gewöhnlich, zu vulgär. Während die Golf-Hornissen alles aus ihren Vierzylinder-Motörchen herauspressen, gleitet der Continental souverän dahin. Jetzt mit einem Achtender statt dem W12-Triebwerk, dem sicher der eine oder andere Traditionalist eine Träne nachweinen wird. Dank der E-Power, die Anfahrschwächen ausgleicht, ist der neue Achtzylinder mit zwei Twinscroll-Turbos bestückt, arbeiter mit einem Einspritzdruck von 350 bar (150 bar mehr als bisher) und ohne Zylinderabschaltung. Das Cruisen ist die echte Stärke des Bentleys, ein nervöser Quertreiber ist nicht der Stil des Nobel-Briten.
Das heißt aber nicht, dass man im Bentley Continental wie eine rollende Wanderdüne durch die Kurven kriecht. Nein, der Continental carvt durchaus flott um die Ecken. Der leicht hecklastigen fast paritätischen Achslastverteilung (49 zu 51), dem Allradantrieb samt Hinterachslenkung sowie einem elektronisch gesteuerten Sperrdifferenzial und Torque Vectoring, sei Dank. Dabei hilft das Gewicht der Batterie mit einer Kapazität von 25,9 Kilowattstunden. Beim Einlenken verhält sich die Vorderachse weit weniger störrisch als man zunächst annimmt und erleichtert mit überraschend viel Grip auch den Beginn der Kurvenfahrt.
Natürlich lässt sich das Gewicht des Continental Speed nicht ganz kaschieren. Hier stößt auch die Ingenieurskunst an ihre Grenzen. Dennoch macht das Fahrwerk mit den Zweiventil-Dämpfern und der aktiven 48-Volt-Wankstabilisierung einen guten Job auch wenn es die Engländer im Komfortmodus etwas übertrieben haben, da die Karosserie beim Überfahren von langen Wellen leicht nachwippt.
Aber das ist kein großer Malus, da die Bentley-Kunden eine zu straffe Abstimmung nicht goutieren würden. Also lieber auf Nummer sicher gehen. Bei all dem Lob für die Federn und Dämpfer fällt auf, dass der Bentley nicht das hydraulische Fahrwerk des Porsche Panamera übernommen hat, was beim Komfort noch einmal eine Schippe drauflegt. „Als wir 2019 das Fahrwerk konzipiert haben, war das hydraulische noch nicht ausgereift. Wir kannten die Lösung mit den Zweiventildämpfern und waren damals sicher, das Fahrwerk so noch feiner abstimmen zu können“, erklärt Baureihenleiter Chris Cole.
Wir freuen uns über diese ehrliche Aussage und ergötzen uns an dem edlen Innenraum. Bei unserem Testfahrzeug ist das Interieur mit edlen Holzapplikationen versehen, auf Wunsch ist das jetzt auch mit modernem und sehr ansehnlichem schwarzem Chrom möglich. Das Naim-Soundsystem mit satten 2.200 Watt und 18 Lautsprechern beschallt das rollende Wohnzimmer mit angemessener akustischer Wucht. Auch wenn auf den ersten Blick alles beim Alten geblieben ist und wir immer noch ein Fan des rotierenden Displays sind, hat sich doch bei Technik einiges getan.
Der Continental hat eine komplett neue Elektronik-Architektur bekommen und damit eine ganze Palette an zusätzlichen Fahrassistenten. Der Bentley kann jetzt selbsttätig einparken, die Klimaanlage ist an das Navigationssystem gekoppelt und „weiß“ jetzt wann die Luftqualität im Innenraum verbessert werden muss. Etwa beim Aktivieren des Umluftbetriebs beim Durchfahren eines Tunnels. Bentley hat noch mehr in der Pipeline: Demnächst wird das Fahrzeug in großen Städten in Europa und den USA in der Lage sein, auf der grünen Ampelwelle zu surfen.
TEXT Wolfgang Gomoll