0,00 €

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

0,00 €

Es befinden sich keine Produkte im Warenkorb.

Das gut gehütete Audi-Geheimnis.

In diesem Jahr sollen Bayern, Oberösterreich und Böhmen Schauplatz eines Rallye-WM-Laufes werden. Das Dreiländereck Deutschland, Österreich und Tschechien stand schon einmal im Zentrum des weltweiten Auto-Interesses. Vor fast vier Jahrzehnten tauchte dort ein mysteriöser Prototyp auf, eine kleine Zeitung landete die ganz große Geschichte und ein Ingenieur verlor sein Leben.

Der Mann kommt jeden Morgen aufs Werksgelände in Ingolstadt, stempelt sich ein und verschwindet in irgendeiner Halle. Außer einer Handvoll Ingenieuren und dem großen Chef weiß niemand, was dieser Typ eigentlich treibt, weder die restliche Sportabteilung noch die TE (Technische Entwicklung). Der Mann ist Schweißer und werkelt an einem Rohrrahmen, den er ständig ummodeln muss, denn die Ingenieure kommen alle naselang mit Änderungswünschen. Sie haben seit Beginn des Sport-Programms 1980 reichlich Erfahrung mit dem Quattro, aber sie haben noch nie ein Rohrrahmen-Chassis konstruiert, das in Sachen Steifigkeit und Sicherheit jede selbsttragende Blechkarosse überflüssig machen soll. 

Dementsprechend dünn sind A- und B-Säulen des Prototyps geraten. Die Karosse ist aus Kunststoff, vor der A-Säule lässt sich die gesamte Front in nur einem Teil demontieren, gleiches gilt für die Heckklappe. In den ausgestellten Quattro-typischen Radhäusern finden sich breite Lufteinlässe für offensichtlich mittig angeordnete Kühler. Vor den C-Säulen sind Luftsammler montiert, wie sie sich später auch beim Lancia Delta S4 finden, wie der legendäre Italiener trägt dieser Audi seinen Motor hinter der Fahrgastzelle.

Audi Gruppe B Prototoyp 2

Eigentlich darf es dieses Auto gar nicht geben. Entwicklungsvorstand Ferdinand Piëch hat trotz krachender Niederlagen des Sport-Quattro in Monte Carlo und Schweden gerade erst behauptet, eine Abkehr vom Serienkonzept mit vor der Vorderachse platziertem Motor sei nicht geplant.

Projektleiter Günter Claassen fürchtet, ein Test auf bayerischen Straßen flöge zu schnell auf, also überquert das Testteam die Grenze nach Österreich. Angeblich soll das Auto 1985 ohnehin nur beim Bergrennen am Pikes Peak antreten, die lehmigen Schotterpisten rund um das Stift Rein scheinen ein geeignetes Simulationsgebiet. Der Abt des Klosters ist eingeweiht. 

Testfahrer Walter Mayer klemmt sich als erster Mensch hinters Lenkrad des ersten Mittelmotor-Quattros der Welt. Der österreichische Rallycross-Meister plädiert alsbald für Abbruch. Es macht wenig Sinn, im Frost Schotterreifen zu testen. Audi pfeift den Reifen-Truck von Michelin zurück und ruft auch den für den kommenden Tag eingeplanten Walter Röhrl an, dass er daheimbleiben kann.

Wer jagt bei dem Wetter schon einen Hund vor die Tür? Die Testtruppe nimmt die Sache mit der Geheimhaltung eher locker, obwohl das weiße Ungetüm einen Höllen-Lärm macht und nahe der Landeshauptstadt Graz alsbald für Aufsehen sorgt. An einer Tankstelle wird der Bolide gestellt. Plötzlich wimmelt es vor Schaulustigen und Reportern, hastig packen die Audianer ein.

Aber Röhrl will das Auto unbedingt fahren. Sein Vorschlag ist, das Objekt der Begierde im geschlossenen Transporter nach Freilassing zu bringen. Dort wartet er mit seinem Spezi Wolfi Kollberbaur und übernimmt das heiße Eisen. „Wir sind mit dem Finger auf der Generalkarte durch Niederbayern gefahren“, erinnert sich Röhrl. 

Polizei stoppt Walter Röhrl

Obwohl Röhrl sich beim Test auf kleinsten Schleichwegen durch die bayerische Provinz in Richtung Regensburg vorarbeitet, wird auch er ertappt. Hinter einer Kuppe steht ein Streifenwagen quer auf der Straße. „Der Röhrl is des, der Röhrl! Geh, nimm den Fotoapparat!“ ruft der Wachtmeister seinem Kollegen zu. Röhrl fleht: „Bitte, lasst den Apparat weg, das Auto darf keiner sehn.“ Der Staatsbeamte lässt sich erweichen, stellt aber eine Bedingung: „Lasst es mal ordentlich brennen. Wir wollen mal sehen, wie die Kiste geht, gell? Auf geht’s!“

Röhrl erinnert sich: „Das Auto ging wie die Hölle und war extrem laut.“ Hinter der dünnen Schottwand wütet ohne nennenswerte Schalldämpfung der bekannte 2,1-Liter-Fünfzylinder, der Anfang 1985 schon locker über 500 PS mobilisiert. Angeblich war für die künftige Wettbewerbs-Waffe ein Motor mit größeren Zylinderabständen geplant, was einen Hubraum bis zu 3,5 Litern möglich gemacht hätte. Allein wegen der Ausmaße wäre ein Frontmotor gar nicht infrage gekommen. 

Roehrl Geistdoerfer Audi Gruppe B

„Das Ding zackte ganz anders als der Sport Quattro“, sagt Röhrl. Der bot mit seiner schweren Nase zwar eine grandiose Traktion, wollte aber nie einlenken. Die Verkürzung des Radstandes um 30 Zentimeter änderte an diesem Umstand wenig, außer dass der Nasenbär, wenn er denn mal die gewählte Richtung eingeschlagen hatte, schlagartig ins Übersteuern wechselte. Es kostete Audi über ein Jahr, bis man dem 1984 auf Korsika erfolglos eingesetzten kurzen Quattro halbwegs Manieren beigebracht hatte. Dank einer Evolutionsstufe mit stark überarbeitetem Fahrwerk und gewaltigen Flügeln konnte Röhrl wenigstens an guten Tagen mit dem Mittelmotor-Peugeot mithalten.

Redakteur Gerhard Nöhrer von der Kleinen Zeitung wusste als Röhrl-Intimus schon vorher von dem Test in Österreich, er hat aber versprochen, die Füße stillzuhalten. Eigentlich sieht man ihn bei Audi nicht als Gefahr, doch nach dem Tankstellen-Zwischenfall besteht die Gefahr, dass es jemand anders druckt. Also hat er selbst einen Fotografen losgeschickt, der den Audi beim Abbiegen an einer kleinen Straßenkreuzung erwischt und bei schütterem Licht mit grobem Korn ein halbes Dutzend Mal abgeschossen hat.

Audi will keine Veröffentlichung

Hastig wird verhandelt. Audi will den Abdruck verhindern, der Chefredakteur wittert den großen Coup und weigert sich. Die Ingolstädter können immerhin die Negative erstehen. Man einigt sich darauf, dass die Story nicht auf der Titelseite erscheint. Sie geht trotzdem um die Welt. ‚Motorsport aktuell‘ druckt wie alle anderen einfach die von der Zeitung abfotografierten Erlkönig-Bilder und fragt eine Woche später: „Audis neue Rallye-Bombe – zwei Jahre zu spät?“ 

Walter Röhrl ist eher der Ansicht, man wäre zu früh dran gewesen. Das ominöse Auto sei schon ein Vorgriff auf die ab 1988 geplante Gruppe S gewesen, die mit maximal 300 PS und höheren Chassis-Sicherheitsanforderungen die eskalierende Gruppe B hätte ablösen sollen. Dagegen spricht, dass die neu gegründete Hersteller-Kommission der FISA auf ihrer ersten Sitzung laut MG-Sportchef John Davenport von Präsident Jean-Marie Balestre erstmals von dieser Gruppe S erfuhr und völlig überrascht wurde. Besagtes Treffen fand im Juni 1985 statt, also drei Monate nach dem aufgeflogenen Audi-Test. 

VW-Chef Carl Hahn ist verschnupft. Ferdinand Piëch kommt mit einem blauen Auge davon. Der Projektchef ist das Bauernopfer.

Audi Gruppe B Prototoyp1

Wie auch immer, die Sache sorgt nicht nur in der Sportwelt für erhebliches Aufsehen, im VAG-Konzern brodelt es. VW-Chef Carl Hahn ist verschnupft, weil er von diesem Projekt nichts weiß, das wiederum bringt Audi-Entwicklungschef Ferdinand Piëch in Erklärungsnot. Der Porsche-Enkel hat durchaus Übung in verdeckten Operation innerhalb des Unternehmens. Schon die Entwicklung des Ur-Quattros lief in Ingolstadt neben den Büchern her. Piëch kommt mit einem blauen Auge davon. Der Projektchef muss als Bauernopfer herhalten. Der von dem Vorfall schwer erschütterte Günter Claassen stirbt wenige Wochen später an einem Herzinfarkt. 

Die ‚auto motor und sport‘ beauftragt mangels besseren Materials den Grafiker Michael Stirm, eine Zeichnung vom Innenleben des Phantoms anzufertigen, das Stirm nicht einmal von außen je gesehen hatte. Der Entwurf trägt einen vom nagelneuen Ford RS200 entlehnten Heckspoiler. Der Auspuff ist wie beim Peugeot 205 Turbo auf der Zeichnung längs mittig hinter dem Motor platziert. Das Endrohr ragt bei ihm hinten aus der Heckschürze wie ein ausgebranntes Segelschiffsgeschütz. Sämtliche Fotos zeigen dagegen nur konventionelle Luftauslässe in der Heckschürze. Tatsächlich gibt es noch zwei weitere Bilder des Einzelstücks. 

Geheimtests nahe Zlin

Zehn Kilometer östlich des tschechischen Zlin liegt die 3.000-Seelengemeinde Slušovice. Vordergründig tiefste Ostblockprovinz, ist das Nest in den Achtziger Jahren ein Vorzeigeprojekt der Tschechoslowakei. Das Agrar-Kombinat JZD Slušovice sorgt mit teilautomatisierten Kuhställen, eigenen Biochemie-Laboren und sogar selbstentwickelten Computern für Furore. Leiter František Čuba ist einerseits treuer Kommunist, andererseits setzt er in seinem Betrieb auf eigentlich typisch kapitalistische Elemente wie Selbstverwirklichung und materielles Interesse. Anders als die üblichen darbenden Kolchosen gibt es in Slušovice eine Pferderennbahn mit vierspurigem Schnellstraßenanschluss. Der Dorfverein klettert bis in die zweite Liga, das Kombinat hat sogar eine eigene Fluglinie.

Ohne Berührungsängste mit dem Klassenfeind – der spätere tschechische Senator Čuba schüttelt 1989 sogar dem späteren US-Präsidenten Donald Trump die Hand – hat die JZD Slušovice einen Vertrag mit der Audi AG abgeschlossen. Die Tschechen bauen auf ihrem weitläufigen Gelände eine Schotterteststrecke für die Bayern, mit 670 Kilometern Entfernung von Ingolstadt schön weit ab vom Schuss. Hier proben auch Skoda oder Lada mit Sportgeräten und Prototypen – und das Audi-Werksteam.

Audi Quattro Sport S1

Im Sommer 1985 fährt Fotograf Jiří Jermakov zur Teststrecke und schaut eine Weile zu, wie ein Sport Quattro seine Runden dreht. Es ist genau das Chassis, das am 30. Juli mit Stig Blomqvist am Steuer in Argentinien das WM-Debüt des geflügelten Sport Quattro E2 bestreitet und danach als Testträger fungiert. Weil dieses Auto danach eine Dreiviertelstunde ungenutzt im Service steht, macht sich Jermakov auf den Heimweg, als er plötzlich einen Fünfzylinder hört, der nicht vom nach wie vor geparkten Sport Quattro stammen kann. Vom unteren Tor des Testgeländes kommt ein Audi 100 angerollt, gefolgt von einem weiteren Auto. Der Fotograf erinnert sich: „Es war klein, ganz in Weiß, und nach den kleinen Überhängen zu urteilen, war es fast sicher, dass der Motor weder vorn noch hinten, sondern in der Mitte sein würde.“

Jermakov weiß sofort, welches Auto das ist und eilt zurück zum Service. Dort nimmt man erstaunlicherweise kaum Notiz von dem Mann mit der Kamera. Jermakov kann das Auto nicht nur aus der Ferne, sondern frontal aus der Nähe ablichten. Danach legt er sich wieder auf der Strecke auf die Lauer, um das Auto auch fahrend zu erwischen. Aber die Audi-Truppe macht keine Anstalten, das berühmte Einzelstück in Bewegung zu setzen. Es bleibt unklar, ob das Mittelmotor-Auto für einen Entwicklungstest in Zlin weilte, oder ob es als Messgröße in einem Vergleichstest für den Quattro E2 herhalten sollte. Jermakov fährt schließlich heim, der Mittelmotor-Audi ist seitdem unauffindbar.

TEXT Markus Stier
FOTOS Jiří Jermakov & McKlein

LESENSWERT.
WALTER.