Um die Bedeutung des 300er-Flügeltürers zu verstehen, kommt man um einen Sprung in die Zeitmaschine nicht umhin. Die spektakuläre Mercedes-Motorsportgeschichte der Neuzeit begann mit dem 300 SL der Generation W 194. Er wurde nicht nur zum Seriensieger der frühen 1950er Jahre, sondern zum Vorbild für alle Sportwagen mit dem Stern. Der neu erschaffene 300 SL Rennsportwagen nutzte bestehende Komponenten und so stammten Achsen, Getriebe und Basismotor aus der 300er-Repräsentationslimousine der Baureihe W 186.
Völlig neu entwickelt wurde hingegen der ebenso leichte wie verwindungssteifer Gitterrohrrahmen, über den sich die elegant geschwungene Karosserie aus Aluminium-Magnesium-Blech wölbt. Weil der Gitterrohrrahmen an den Seiten vergleichsweise hoch ansetzt, konnte der W 194 nicht mit herkömmlichen Türen versehen werden – so kam der Rennsportwagen zu den charakteristischen Flügeltüren, die am Dach angeschlagen sind. Dieses Merkmal übernahm ab 1954 auch der aus dem Rennwagen entwickelte 300-SL-Seriensportwagen der Baureihe W 198. Als Antrieb diente der170 PS starke Reihensechszylinder vom Typ M 194 mit 2.996 Kubikzentimeter Hubraum.
Die Rennerfolge der verschiedenen Generationen des Mercedes 300 SL sind ungezählt. Der Erstling mit der Produktionsnummer zwei siegte mit der Fahrerbesetzung Hermann Lang und Fritz Riess unter anderem bei den 24 Stunden von Le Mans im Jahre 1952, als man den zweiten Mercedes-Benz 300 SL mit Theo Helfrich und Helmut Niedermayr mit 277 zu 276 Runden distanzieren konnte. Nach 22jähriger Abwesenheit von Mercedes gleich ein Sieg beim Neueinstieg und dann mit einem komplett neu entwickelten Auto, das nicht nur durch seine Aluminiumkarosse und den drei Liter großen Sechszylinder von sich reden machte. Bei dem 24-Stunden-Rennen auf dem legendären Rennkurs an der Sarthe hatte nicht zuletzt der exzellente Luftwiderstandswert von 0,376 einen Anteil am Gesamtsieg.
„Der W194 ist deutlich anders als ein W198.040“, erläutert Daimler-Klassikexperte Michael Plag, „der Sportprototyp als Urahn des SL wurde 1951 / 52 aus dem nichts entwickelt. Unsere Vorgänger hatten die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wenig zur Verfügung, doch sie hatten einen riesigen Idealismus und waren die besten Ihres Faches; Mechaniker als auch Ingenieure bis hin zu den siegreichen Rennfahrern des W 194 wie Kling, Lang oder Caracciola.“
Bis heute spektakulärer denn je das Rennen der Carrera Panamericana 1952 von der Südgrenze Mexikos nach Norden. Mit mehr als 3.400 Kilometern war die Panamericana rund doppelt so lang wie die Mille Miglia. Bei der dritten Auflage im Jahre 1952 gewann ebenfalls der Mercedes-Benz 300 SL W 194 mit Karl Klink und Hans Klenk, obwohl ein Geier die Windschutzscheibe durchschlug und Hans Klenk verletzte. Diese Geschichte wurde zur Rennsportlegende. Zuvor hatte der 300er SL mit der identischen Fahrerbesetzung auf der Mille Miglia 1952 bereits den zweiten Platz belegt und die Langstreckenrennen in Bern und am Nürburgring gewonnen.
Der 300 SL mit der Startnummer 5 ist auf den ersten Blick an seinem blauen Lidstrich zu erkennen. Mit der Produktionsnummer fünf belegte Rudolf Caracciola, dreimaliger Europameister der Silberpfeilära von 1934 bis 1939, bei der Mille Miglia 1952 den vierten Rang. Hermann Lang, Europameister 1939, wird 1952 mit diesem 300 SL Zweiter bei der Carrera Panamericana. Bei allen Veranstaltungen war es der hoch belastbare Motor des Mercedes-Benz 300 S, der im Rennwagen des Mercedes-Benz 300 SL der Baureihe W 194 von 115 PS auf 170 PS erstarkte und in einem Winkel von 50 Grad linksgeneigt verbaut wurde.
Zum Meilenstein in der Motorsportgeschichte wurde der Gitterrohrrahmen, der – unter Rudolf Uhlenhaut entwickelt – trotz seiner großen Steifigkeit gerade einmal 50 Kilogramm wog. Brachte das Luxuscoupé des Mercedes 300 S knapp 1,8 Tonnen auf die Waage, wog der Renn-SL gerade einmal 1.100 Kilogramm. Das Tankvolumen im Heck wuchs zeitgleich auf stattliche 170 Liter, sodass möglichst wenig nachgetankt werden musste. Das damalige Lastenheft des Mercedes SL W 194 hatte als Hauptkriterium das Thema Leichtbau. Daher wurden viele Teile der Technik und der Karosserie aus Alu und Magnesium gefertigt. Zuverlässigkeit war nicht selbstverständlich bei einem damaligen Rennwagen. Die aufwendige Aerodynamik und vermeintliche Nebensächlichkeiten wie die Bequemlichkeit für den Rennfahrer am Steuer senkten das Unfallrisiko nennenswert. So werden Legenden geboren.
TEXT Jürgen Wolff / Stefan Grundhoff