Bevor der Mercedes EQS 580 los rollt, kurz der Blick zurück. Vor zweieinhalb Jahren hab ich einen ähnlichen Stunt durchgeführt. Damals noch völlig naiv. Ich dachte, man könnte ein sündteures E-Auto einfach benutzen, wie man es braucht. Nicht grundlos war die Reportage allerdings danach unter der Rubrik „Abenteuer“ im Inhaltsverzeichnis aufgeführt. Das Ergebnis ist bekannt: Hamburg-Leipzig in neun Stunden. Laufzeit wie eine Postkarte! Mit vier Stunden Verspätung und reichlich Kontakt zu Steckdosen, an denen Ikea heute keine Küche mehr anschließen würde.
Aber seien wir fair: das ist zweieinhalb Jahre her. Das sind Lichtjahre. Damals war Angela Merkel noch Kanzlerin und das Paprikaschnitzel nicht erfunden. Es ist viel passiert in der Zwischenzeit.
Weil ich vom ersten gescheiterten Versuch noch wusste, dass man sich auf alles verlassen kann, aber nicht auf eine Navi-Software eines deutschen Autos, war ich dieses Mal vorbereitet. Apps, die mir Routen mit Ladestopps berechnen, Apps, die mir anzeigen, ob diese Ladesäulen denn auch was können und frei sind, Apps, mit denen man bezahlen kann. Ist ja in einem Arbeitstag erledigt. Nach der sechsten App hab ich aufgehört um nicht Gefahr zu laufen, soweit in die Nerdwelt abzurutschen, dass man keinen Sex mehr hat. Das Risiko war mir zu groß.
Rückblickend erscheinen mir die zweifelhaften Gestalten, die damals aus ihren ehemaligen Kinderzimmern aufgeschrien haben, „man braucht doch Apps, wie unvorbereitet kann man sein“, noch ein bisschen skuriller als damals schon. Als seien E-Auto-Reisen ein illegal heruntergeladenes Geheim-Game, wo man sich schon selbst kümmern muss, damit die gecrackte Software auf dem neonbeleuchteten Super-PC läuft.
Egal: Ich war supernerdy vorbereitet.
Steige in den EQS, sage „Hey Mercedes, bring mich nach Leipzig“ … und das war es schon.
Die Dame im Navi plant kurz die Route, erklärt mir freundlich, dass sie für mich einen Ladestopp an einem Schnellader eingerechnet hat, Ende. Los geht’s, gute Fahrt. Ich glaube natürlich erstmal nichts, merke aber schon, dass das durchaus eine Erwachsene gewesen sein könnte, die das beruflich macht.
Normalerweise verbringe ich die ersten 500 Kilometer in einem neumodernen Fahrzeug damit, in den Displayuntiefen die überflüssigen Helfer zu finden. Und falls man sie findet, sie zu deaktivieren.
Dieses Mal: nö. Musste ich gar nicht. Nichts, aber auch wirklich nichts ist so eingestellt, dass es nerven würde. Das sind wirklich alles freundliche Helfer, die mit der netten Dame aus dem Navi in einer sehr aufgeräumten Wohngemeinschaft zusammenleben und augenscheinlich die gleiche Benimmlehrerin hatten. Alle sind im Hintergrund um mein Wohl besorgt ohne ständig darauf hinzuweisen oder lärmend durch die Wohnung zu laufen.
Die bedrohlichen 2,5 Tonnen des Mercedes EQS 580 kennt man auch nur aus den Datenblättern. Auf der Straße sind sie weg. Komplett weg. Ein Freund, der unbedingt ein paar Meter mit dem Auto fahren wollte, konstatierte dem EQS-Superschwergewicht die gleiche Leichtigkeit wie die seines E-Smarts (wie ein Smart-Fahrer mein Freund werden konnte, muss an anderer Stelle geklärt werden). Aber es ist wirklich so: Luftfederung, superleichtgängige Lenkung und die um 10 Grad mitlenkenden Hinterräder lassen den Mercedes EQS 580 auf Wunsch Haken schlagen wie ein Angorakaninchen. Und nicht wie ein Breitmaulnashorn, was der EQS eigentlich per Wiegeprotokoll ist.
Ich hatte den Mercedes EQS 580 4MATIC mit zwei Motoren, somit Allradantrieb und 524 PS bekommen. Ja, die Power macht Spaß, aber wir sind doch auch alle reflektiert genug um uns folgenden Sachverhalt ein für alle Mal einzugestehen: außer um neu hinzugestiegenen Fahrgästen die Schubkraft einmal kurz zu demonstrieren, nutzt man diese Leistung nie wieder. Meine Empfehlung: der Heckantrieb reicht völlig. Das ist günstiger und hat noch mal rund 100 km mehr an WLTP-Reichweite (780 zu 676) und ist mit 333 PS ja auch noch kein Verkehrshindernis.
Von meinem ersten Fahrversuch vor zweieinhalb Jahren im Audi e-tron wusste ich noch: will man die vorausberechnete Reichweite einhalten ist 120 auf der Autobahn angesagt. So bin ich auch gestartet, merkte aber schnell, dass der Mercedes das nicht nötig hat. Immer größer statt kleiner wurde die Restreichweite, also rauf auf 130. Und auch da: zu langsam! Erst bei 140 schafft man es, die Restreichweite in der Waage zu halten, abnehmen würde sie erst darüber. Ganz ehrlich: damit kann ich gut leben.
Und bin fortan einfach gefahren, wie mit jedem anderen Auto. So schnell ich gerade wollte oder durfte oder konnte. Die 107,8 kWh-Batterie des Mercedes EQS 580 im 400-Volt-System kann das. Blöd allerdings: man freut sich auf einen kleinen Snack beim ersten Ladestopp, guckt immer mal, wie lange das noch dauert und stellt auf einmal fest: weil man anfangs wie eine scheue Zweitklässlerin gefahren ist, hat die Navigationsbeauftragte einfach mal den Ladestopp nach hinten geschoben, weil er einfach noch gar nicht nötig war. Ja, schön, toll. Aber der Magen sagt: nein, gar nicht schön, überhaupt nicht toll.
Fünfhundert Kilometer schafft der Mercedes EQS 580 problemlos. Aber ich doch nicht!
Nicht mehr weit vor Leipzig war es dann so weit. Ich schüchtern mit der Mercedes Me-Karte in Richtung 200 kW-Schnellladesäule gegangen, angefangen den Text zu lesen, zack, Säule schon freigeschaltet. Man muss nur nah genug ran, das reicht. Nix mehr mit „bitte werfen sie eine Münze ein“ oder „gehen sie nicht über Los“ oder anderen nervigen Schikanen. Karte dranhalten, das dicke Kabel aus dem Gerät genommen, ins Auto stecken, fertig. Wie tanken. Nur einfacher.
Ich jetzt also ab zu McDonalds (einmal im Jahr darf man das). 200 Meter neben der Säule (was sich übrigens den Rest der Fahrt wiederholt: entweder McDonalds oder die Ladesäulenbetreiber waren klug – beide stehen immer nah beieinander). Kurz zur Toilette, zwei Cheeseburger bestellt und zurück Richtung Auto. Man weiß ja nie, ob da was ausfällt oder schief geht. Schief gegangen ist allerdings nur eins: mein Essen. Denn das Auto war schon zur Weiterfahrt bereit. WHAT? Ich sollte von 15 auf 40 Prozent laden, das war in exakt der beschrieben Handlung erledigt. Maximale 200 kW kann das System Laden, auf unserer Tour waren es meist um die 150. Unter optimalen Bedingungen lädt der Mercedes EQS 580 also 300 Kilometer in 15 Minuten nach. Das ist somit nur was für Menschen auf Diät, die keine Essenspausen wollen. Ich hab mir noch eben die Burger reingeschoben (man will ja die Navigatorin nicht verärgern) und bin dann mit mittlerweile 60 Prozent vom Hof gefahren.
Der Mercedes EQS 580 funktioniert einfach
Das ist es was ich meine: wir brauchen bei diesem Auto nicht mehr über Werte oder Zahlen oder Zeiten oder anderen Nerdkram sprechen. Dieses Auto funktioniert einfach so, wie ein Mensch auch. Mini-Stopp für beide und dann weiter. Der Mercedes EQS 580 und seine freundlichen Personen hinter den Kulissen halten Dich nicht auf. Sie begleiten Dich. Und ich kann es vorwegnehmen: das ging die restlichen knapp 1.200 Kilometer in den zwei Tagen genau so weiter. Du denkst an eine Pause, machst sie, so lange wie DU willst, und wieder los. Wie mit einem Verbrenner – nur dass man nicht mehr zwischen den Kegelrentnern und den Unterhemd-Truckern an der Kasse zum Bezahlen stehen darf. Wie jammerschade.
Zwanzigkommabisschen kWh hat der EQS im Schnitt verbraucht. Das ist gar nichts für so ein schweres Vieh. Und erst recht nicht, wenn man einfach so fährt, wie es einem beliebt. Nicht einmal hab ich auf den Bildschirm getippt, weil das System angeboten hatte, ich könne durch Reduzierung von diesem, jenem und welchen 50 Kilometer mehr Reichweite erlangen. Warum sollte ich? Ist doch egal im EQS.
Wahrer Stille lauschen
Man muss es ganz klar sagen: ein EQS ist absolut verhaltensunauffällig. Wie ein normales Auto. Na ja, ok, es ist immerhin eine S-Klasse. Mit belüfteten Massage-Sitzen die so gut sind, so wirklich richtig gut, wie es wohl nur Privatpatienten außerhalb eines Autos erfahren dürften. Ein Kofferraum, der wirklich als ein Raum voller Koffer genutzt werden kann. Vermisst man Geräusche? Nein. Die Doppelverglasung filtert die Umwelt raus, da ist man gerade zu froh, einfach einmal wahrer Stille zu lauschen. Denn auch das ist fein: entweder ist es wahnsinnig gut gemacht oder Mercedes hat einfach darauf verzichtet, groteske Antriebsgeräusche einzublenden. Vielleicht klingt der EQS auch nur zufällig freundlich. Wobei. Bei diesem Auto ist nichts zufällig.
Bevor nun die Steuerfahndung des Finanzamtes Hamburg-Hansa (Grüße gehen raus!) anfängt, Zahlungen aus Stuttgart auf meinem Konto zu vermuten, gibt es noch ein bisschen Schelte. Außenfarbe des Testwagens: Mattgrau (die 2000er lassen grüßen). Lenkrad, Sitze, Möbel und Teppichboden: sowas wie Weiß (die 90er grüßen zurück!). Ja, Zielgruppe Nummer 1 sind Asiaten und Emire. Aber nur, weil es da noch keine Geschmackspolizei gibt, muss man ja nicht gleich einen Testwagen für deutsche Journalisten gleichermaßen entstellen. In freundlichem dunkel sieht das alles so viel besser aus. Oder braun. Oder grün. Oder egal was.
Kritikpunkt zwei: die Innenbeleuchtung. Ist man Member oder Fan der Blueman Group: Bingo! Wenn nicht: ist es ein bisschen zu viel leuchtblau an ein bisschen zu vielen Stellen. Kritikpunkt Nummer 3: das Display. Verzeihung, der Bildschirm, nein, die Großbildleinwand, also die Videowall. Oder den Hyperscreen, wie Mercedes das 1,41 Meter breite Übel nennt. So prominent und ebenso ablenkend wie eine komplett aufgefaltete Shell-Karte quer übers ganze Armaturenbrett geworfen. Solche „Hyperhyper“-Screens sind ja in Mode, aber das waren Zeppeline auch mal. Ausgang bekannt.
Ich halte diese Fettfinger-Schaukästen nach wie vor für die künftige Unfallursache Nummer 1 und somit für bestrafungswürdiger als Handys. Ganz besonderes Ärgernis im Mercedes EQS 580: der Screen für den Beifahrer (warum braucht ein Beifahrer einen Bildschirm, der soll Käsebrote und Tee reichen!) ist so geschwungen, dass sich jeder Baum, jedes Haus und jede Straßenlaterne darin spiegelt und mit jeder einzelnen Spiegelung und dem damit verbundenen „Flackern“ den Fahrer noch weiter vom Verkehr ablenkt. Weg damit!
Und Kritikpunkt Nummer 4: Der optische Knick zwischen Windschutzscheibe und ehemaliger Fronthaube (es ist gar keine Haube, sie lässt sich nicht öffnen, dort sitzt ein besonderer Luftfilter für den Innenraum, der sogar Corona-Viren fernhalten soll). Hätte man denn diesen Schwung nicht zu Ende bringen können? Ja, bester Cw-Wert aller aktuellen Autos, toll. Aber der zweitbeste hätte auch gereicht, wenn man damit das ansonsten mutige Auto zu Ende gestaltet hätte.
Ist der Mercedes EQS 580 das beste Auto der Welt? Fast. Aber der nächste. Der wird es sein.
TEXT und FOTOS Thomas Senn
PS: Da es schon mehrfach hier geklingelt hat, weil Menschen mich einweisen lassen wollten … sorgt Euch nicht um mich. DIESES Auto ist ein (fast) perfektes E-Auto. Dieses. Nicht jedes. Und Notiz an mich: sofort die Nerd-Apps wieder löschen. Und Notiz an die Excel-Tabellen-Ladezeiten-Verbrauchs-Reichweiten-Freaks: könnt ihr auch löschen, braucht keiner mehr. Fährt jetzt einfach so.
Technische Daten Mercedes EQS 580 4MATIC
- Abmessungen: Länge/Breite/Höhe 5.216 / 1.926 / 1.512 mm, Leergewicht: 2.585 kg, Kofferraum: 610-1770 l
- Motoren: zwei Permanentmagnet-Synchronmaschinen, vorne 140 kW, hinten 245 kW; Systemleistung: 385 kW (524 PS); max. Drehmoment: 855 Nm
- Antrieb: Allrad, Eingangautomatik
- Akkukapazität: 107,8 kWh (netto)
- Verbrauch (WLTP): 18,3-21,4 kWh/100 km
- Reichweite (WLTP): 676 km
- Ladezeit: 31 Minuten (DC bis 80 Prozent)
- Fahrleistungen: 0-100 km/h: 4,3 s, Vmax: 210 km/h
- Preis: 141.705 EUR